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Politik

Vom Wächter des kemalistischen Regimes zur Erdoğans Machtstütze?

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Wenn es um die Säuberungswellen geht, mit denen die türkische Regierung seit dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli das Land überzieht, blicken westliche Medien – mit gutem Grund – meist auf stark betroffene Berufsgruppen wie Journalisten, Lehrer und Akademiker. Doch in kaum einem Bereich wurde so rigoros aussortiert wie im Militär. Im Verhältnis zur Gesamtzahl wurden nirgendwo so viele Menschen suspendiert, entlassen oder inhaftiert wie in den Streitkräften. Wie aus einer Aufstellung des türkischen Generalstabs hervorgeht, die auf den 4. Oktober datiert, aber kurz darauf aus dem Netz genommen wurde, dienten Ende Juni 2016 knapp 520 000 Menschen in den Türkischen Streitkräften (TSK). Am 4. Oktober, keine drei Monate nach dem Putsch, waren es noch gut 350 000.

Von 358 Generälen und Admirälen sind noch 201 übrig. Beinahe wöchentlich verkündet Verteidigungsminister Fikri Işık die Entlassung von Soldaten, Offizieren, Militärrichtern und anderem Streitkräftepersonal. Es kursieren Berichte, wonach nur durch die Wiedereinstellung von Offizieren, die während der Ergenekon-Prozesse geschasst wurden, das weitere Funktionieren der türkischen Luftwaffe ermöglichen.

Darauf deutet auch der Umgang der Luftwaffenführung mit einer Gruppe von Kampfpiloten im Südosten der Türkei. Die Zeitung Hürriyet und das Nachrichtenportal T24 berichten von einem Fall, bei dem neun Kampfpiloten, die entlassen wurden, weil sie der Mitgliedschaft in der sogenannten „Fethullahistischen Terrororganisation“ (FETÖ) bezichtigt werden, aus Mangel an einsatzfähigem Ersatz wieder in Dienst gestellt wurden. Seit dem gescheiterten Putschversuch wurden 264 Kampfpiloten aus der Luftwaffe geworfen. Angesichts des eklatanten Mangels hatten sich deshalb TSK-Führung und Verteidigungsministerium an die Oberstaatsanwaltschaft gewendet und gefragt, ob es möglich sei, entfernte Piloten unter Auflagen wieder Einsätze fliegen zu lassen. Die neun betroffenen Piloten dürfen das Land nicht verlassen und unterliegen polizeilicher Meldepflicht; sie müssen sich einmal die Woche auf einem nahe gelegenen Polizeirevier melden. Dennoch fliegen sie Kampfeinsätze im Irak, in Syrien und im Südosten der Türkei. Sie werden beschuldigt, Terroristen zu sein – gleichzeitig vertraut man ihnen aber die zerstörerischsten Waffen an, die die Türkischen Streitkräfte haben.

Und das alles, während das Land in drei militärische Konflikte gleichzeitig verwickelt ist: in Syrien, Irak und den dritten innerhalb der eigenen Grenzen gegen die terroristische PKK.

Von den Säuberungen betroffen sind jedoch nicht nur Militärangehörige innerhalb des Landes und damit die Einsatzfähigkeit im Kampf gegen die PKK, die YPG und den IS, sondern auch Soldaten im Ausland und die transatlantischen Beziehungen des NATO-Landes Türkei. Ankara wirft auch Offizieren, die in ausländischen Vertretungen und bei der NATO ihren Dienst leisten, vor, am versuchten Putsch beteiligt gewesen zu sein. Wie türkische Medien und die Nachrichtenagentur Reuters berichten, wurden am 27. September insgesamt 149 Offiziere, die auf NATO-Stützpunkten in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien stationiert waren, in die Türkei zurückbeordert. Mehrere von ihnen wurden direkt nach ihrer Einreise in die Türkei verhaftet. Einige sollen jedoch den Gehorsam verweigert haben und nicht in ihr Heimatland zurückgekehrt sein, darunter auch ein Militärattaché, der seinen Dienst in der türkischen Botschaft in Berlin verrichtet hat.

Besonders betroffen ist das europäische NATO-Hauptquartier SHAPE (Supreme Head Quarters Allied Powers Europe) in Mons bei Brüssel. Wie ein türkischer Armeeangehöriger berichtet, sollen von den einst 50 türkischen Offizieren dort nur noch 9 übrig sein. An den letzten NATO-Sitzungen dort soll die türkische Delegation gar nicht mehr teilgenommen haben: „Die Türkei sitzt nicht mehr am Tisch“, wird der namentlich nicht genannte Offizier von Hürriyet zitiert.

Insgesamt sollen über 300 türkische Offiziere auf NATO-Posten eine Rückbeorderung in die Türkei erhalten haben. Aufgrund der rechtlichen Unsicherheit – viele wissen nicht, ob sie direkt nach Ankunft verhaftet werden – erwägen viele, dem Befehl nicht nachzukommen und in den jeweiligen Einsatzländern Asyl zu beantragen. „Diejenigen, die am meisten unter den Vorgängen leiden, sind die Militärattachés und im Ausland stationierte Offiziere. Es liegen Haftbefehle gegen über 40 Militärattachés vor“, zitiert das Nachrichtenportal Al-Monitor Çoşkun Ünal, einen Oberst a.D. der türkischen Armee, der in den USA lebt. Er berichtet von einem Luftwaffenoberst, der seiner Rückbeorderung gefolgt ist und direkt nach der Einreise verhaftet wurde.

Der türkische NATO-Botschafter Mehmet Fatih Ceylan wollte sich zu den Vorgängen bisher nicht äußern. Ein NATO-Vertreter hingegen sagte, dass die Türkei das Bündnis über den Personalwechsel informiert hätte und dass auf höchster Ebene eine Diskussion dazu stattfand: „Wir wollen hoffen, dass die Türkei sich an das Primat des Rechts halten wird, wenn sie die Verantwortlichen des Putsches vor Gericht stellt.“

Bereits wenige Wochen nach dem Putsch ließen US-Militärs verlauten, dass die Säuberungen in den türkischen Streitkräften spürbare Auswirkungen auf die transatlantische Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik haben. Ein Großteil der Ansprechpartner auf türkischer Seite sei weggebrochen, hieß es. Analysten und Sicherheitsexperten sehen in den Massenentlassungen im Militär – vor allem in den hohen Offiziersrängen – auch eine Taktik zum Umbau der Streitkräfte. Bereits seit den 50er Jahren soll es in der Armeeführung einen „atlantischen“ und einen „eurasischen“ Flügel geben. Ersterer vor allem aus pro-westlich orientierten Offizieren, die für eine enge Anbindung an die NATO und eine vertiefte Zusammenarbeit mit den USA und europäischen Verbündeten plädieren. Der „eurasische“ Flügel hingegen wird von den sogenannten Ulusalcılar dominiert, Ultranationalisten vom Schlage Doğu Perinçeks. Sie stehen für einen isolationistischen Kurs, sind dem Westen und insbesondere den USA gegenüber eher feindlich eingestellt, dafür mit Wohlwollen gegenüber Russland und China.

Von den Säuberungen sind nun hauptsächlich Offiziere betroffen, die dem pro-westlichen, „atlantischen“ Flügel zugerechnet werden – fast alle Anhänger der Gülen-Bewegung, die im Militärapparat vertreten waren, sollen diesem Flügel angehört haben. Wie der Sicherheitsexperte Metin Gürcan berichtet, soll sich nun hinter den Kulissen ein Machtkampf um die freigewordenen Posten abspielen. Bereits seit längerem gilt es als gesichert, dass sich die Staatsführung um Präsident Erdoğan mit den Ulusalcılar um Doğu Perinçek verbündet hat und dieser im Hintergrund viele Fäden zieht – einige halten ihn für einflussreicher als Premierminister Binali Yıldırım. Er gilt als eine der treibenden Kräfte hinter den riesigen Säuberungswellen im Staatsapparat.

Wegen des Mangels an eigenem qualifizierten Personal angesichts der zehntausenden von freigewordenen Stellen sollen es Gefolgsleute Perinçeks sein, mit denen diese besetzt werden. „Mit ihren derzeitigen Kadern kann die AKP die Türkei nicht führen. Deshalb verlässt sich Präsident Erdoğan auf unsere Leute in kritischen Positionen des Staates“, hatte der Ultranationalist am 16. August in einer Fernsehsendung behauptet. Dabei soll es jedoch mittlerweile zu Konflikten und Verteilungskämpfen um Schlüsselpositionen zwischen der Perinçek-Gruppe und Kadern religiös-nationalistischer AKP-Getreuer in Verwaltung und Streitkräften kommen, die diese Stellen ebenfalls für sich beanspruchen. Der Tenor: Die Perinçek-Gruppe breitet sich weit über das notwendige Maß hinaus aus. Ob sich damit ein weiterer Konflikt anbahnt, ist zumindest nicht absehbar.