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Kolumnen

In der Türkei AKP, in Deutschland SPD

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Die früher wahlmüden türkischen Einwanderer gingen 2013 in Scharen zur Wahl. Und sie trugen entscheidend zu Veränderungen bei. Sowohl die Grünen-Verluste als auch die Zugewinne für SPD und CDU hatten viel mit ihrem Votum zu tun. (Foto: cihan)

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Recep Tayyip Erdogan und Gerhard Schröder im Jahre 2004.
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Das Thema Politikverdrossenheit beschäftigt seit Jahren die Öffentlichkeit. Vor allem bei Einwanderern war die Wahlbeteiligung bis dato im Vergleich zur Mehrheitsbevölkerung sehr gering. Doch dies scheint sich zu ändern.

Die Beteiligung der türkischstämmigen Wahlberechtigten an den diesjährigen Bundestagswahlen war mit 70 Prozent deutlich höher als beim letzten Urnengang, im Zuge dessen nur etwa 25 Prozent ihre Stimme abgegeben hatten. Dies ist das Ergebnis einer gemeinsamen repräsentativen Studie des Berliner Markt- und Meinungsforschungsinstituts Data 4U und des Zentrums für Migration und politische Wissenschaften der Hacettepe Universität Ankara (HUGO), bei der 2244 Personen mit türkischen Wurzeln telefonisch befragt wurden.

Dr. Murat Erdoğan von der Hacettepe Universität präsentierte die Untersuchungsergebnisse im Rahmen einer Pressekonferenz in der Kölner Zentrale der „Union Europäisch-Türkischer Demokraten“ (UETD), die die Studie mitgetragen hat. Gegenstand der Untersuchung waren neben der Wahlbeteiligung unter anderem die Parteipräferenzen der Befragten sowohl in Deutschland als auch in der Türkei.

Die Studie wurde in elf Bundesländern durchgeführt. Unter den interviewten Türkeistämmigen besaßen 1002 Personen die deutsche Staatsbürgerschaft. 84 % hatten nur den deutschen Pass, 16 % besaßen zudem auch die Staatsangehörigkeit der Türkei. Erdoğan wies in seiner Präsentation darauf hin, dass es bis zum Zeitpunkt der Umfragen keine gesicherten Daten über das Stimmpotenzial türkischstämmiger Bürger in Deutschland gab.

„In Deutschland gibt es 951 000 Wahlberechtigte mit Wurzeln in der Türkei. Das sind fast eine Million Stimmen. Es ist wichtig für uns, dass wir uns dieses Potenzials bewusst werden. Die türkischstämmigen Personen in Deutschland, wo etwa 61 Millionen Wahlberechtigte leben, machen einen Stimmenanteil von umgerechnet 1,5% aus. Im neuen Bundestag sind 11 Abgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund vertreten. Im Vergleich mit den übrigen Abgeordneten würde das eine Vertretungsquote von 1,7% ergeben“, verdeutlichte der Wissenschaftler aus Ankara.

Erdoğan fügte hinzu, dass nach der statistischen Erhebung 661 000 Personen mit türkischer Migrationsgeschichte an den Bundestagswahlen am 22. September teilnahmen. „Dies ist eine bedeutende Anzahl“. Die Quote der weiblichen Wähler lag bei 68%. Unter den Männern war sie mit 72% geringfügig höher. 4% der Stimmberechtigten haben von der Briefwahl Gebrauch gemacht. 66% gaben ihre Stimme direkt an der Wahlurne ab.

SPD weit vor allen anderen Parteien

Die Sozialdemokraten (SPD) scheinen bei den türkischstämmigen Wählerinnen und Wählern immer noch hoch im Kurs zu stehen. Mit 64% gaben die meisten Einwanderer mit türkischen Wurzeln dieser Partei ihre Stimme, was in absoluten Zahlen 425 000 Stimmen entspricht. Grüne und Linkspartei lagen mit jeweils 12% (80 000 Stimmen) gleichauf. Die Christdemokraten (CDU) steigerten ihr Ergebnis im Gegensatz zur letzten Bundestagswahl von fünf auf sieben Prozent (45 000 Stimmen). Für das „Bündnis für Innovation und Gerechtigkeit“ (BIG), eine Vereinigung, die hauptsächlich aus Einwanderern besteht, entschieden sich drei Prozent (24 000 Stimmen) der türkischstämmigen Wahlberechtigten. Die übrigen Parteien kamen zusammen lediglich auf zwei Prozent. In Anbetracht des guten SPD-Ergebnisses und der Zugewinne für die Union erscheint die sich abzeichnende Große Koalition durchaus auch als eine Konstellation, die dem Votum der Einwanderer Rechnung trägt.

Türkeipolitik und Verhalten bei Gezi-Park-Protesten beeinflussten die Wahl

Murat Erdoğan, Forschungsleiter der repräsentativen Studie, wies überdies auf den Zusammenhang der Türkeipolitik der Parteien und der Stimmverteilung hin. Für 40% der wahlberechtigten Deutsch-Türken hätte die Türkeipolitik der jeweiligen Partei eine entscheidende Rolle bei der Stimmabgabe gespielt. Die Grünen hätten zum Beispiel massiv an Zustimmung verloren, da sie die Gezi-Proteste aktiv unterstützt hätten. Zudem herrsche bei vielen türkeistämmigen Stimmberechtigten den Eindruck vor, dass die Grünen eine „Alevitenpartei“ geworden seien, bei der fast alle türkischstämmigen Personen auf der Leitungsebene alevitische Wurzeln besäßen. Dies habe laut Erdoğan dazu geführt, dass die Grünen von 28% bei der vorigen Bundestagswahl auf jetzt 12% fielen.

Süleyman Çelik, Chef der UETD, bedankte sich besonders bei der türkischen Presse, die gemeinsam mit etwa 40 Organisationen und Vereinen eine „Wahlinitiative zur Bundestagswahl“ unterstützt hatten. Der Chef der Lobbyorganisation zeigte sich überwältigt von der Wahlbeteiligung: „Mit so einem Ergebnis haben wir schlicht und einfach nicht gerechnet. Es gingen fast doppelt so viele türkeistämmige Menschen zur Bundestagswahl, als wir erwartet haben“, sagte Çelik. Die UETD hatte 500 000 Broschüren drucken lassen und zahlreiche Informationsveranstaltungen zur Teilnahme an der Bundestagswahl organisiert.

AKP liegt in der Wählergunst der Deutsch-Türken immer noch an erster Stelle

Den 2244 Interviewten wurde auch die Frage gestellt, welcher Partei sie in der Türkei ihre Stimmen gäben, falls gewählt würde. 58% entschieden sich für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Republikanische Volkspartei (CHP) unter Kemal Kılıçdaroğlu käme auf 26% der Wählerstimmen. Die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) käme mit 4% nicht mehr in das Parlament. Auch die Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die besonders unter kurdischstämmigen Türken beliebt ist, würde mit 5% an der Zehn-Prozent-Hürde scheitern (die allerdings in absehbarer Zeit gesenkt werden soll). Von allen Befragten fühlten sich außerdem 40% in Deutschland zu Hause.

Autoreninfo: Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”. Die Themenschwerpunkte von Yasin Baş sind: Türkisch-Deutsche Beziehungen, Ethnomarketing, Integrations-, Migrations- und Sicherheitspolitik sowie Deutsche Geschichte (nach 1871).