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Politik

Wahlprognosen: Was ist da schiefgelaufen?

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Das gestrige Wahlergebnis war für fast alle Beobachter eine Überraschung, vor allem weil alle relevanten Meinungsforschungsinstitute, die sonst als relativ zuverlässig gelten, seit Monaten kontinuierlich anderslautende Prognosen abgaben.

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Der Wahlsieg der AKP kam für die allermeisten Beobachter überraschend, in der Opposition genauso wie unter Regierungsanhängern. Das Ergebnis der Parlamentswahl schien fast ausgemachte Sache, alle Meinungsforschungsinstitute des Landes kamen in den letzten fünf Monaten auf beinahe gleichlautende Ergebnisse. Bis gestern Abend gingen auch die meisten politischen Experten und Beobachter davon aus, dass sich am Ergebnis der Parlamentswahl vom 07. Juni nicht viel ändern wird, die AKP könnte vielleicht ein paar Prozentpunkte zulegen, aber weder würde sie die alleinige Regierungsmehrheit erreichen, noch würde die HDP wieder aus dem Parlament fliegen. Das war nicht einmal allzu leichtsinnig, denn vor den letzten Wahlen im Juni taten sich mehrere Institute, allen voran Gezici, durch genaue Prognosen hervor.

Doch dann der gestrige Abend. Nun könnte man einwenden, dass sich auch demoskopische Institute halt mal irren können und eine gewisse Abweichung ohnehin einberechnet werden muss. Aber in diesem Ausmaß? 22 nennenswerte Meinungsforschungsinstitute gibt es in der Türkei, manches seriös und unabhängig, manches eher parteilich und politisch gebunden. Diese 22 Institute haben zwischen den beiden Wahlen 56 Wahlprognosen durchgeführt und veröffentlicht, deren Befunde alle relativ nahe beieinander lagen. Die einzige Ausnahme war eine Studie des Instituts A&G, in der die AKP vor einer Woche auf 47,2% der Stimmen kam. Entsprechend wurde dem Ergebnis eher eine Außenseiterrolle eingeräumt. In allen anderen 55 Meinungsumfragen, die zwischen dem 08. Juni und dem 30. Oktober durchgeführt wurden, lag die Regierungspartei zwischen 38,2 und 44,7%, wobei sie die meisten Institute ein wenig über der 40%-Marke sahen.

Wahlmanipulation scheint bisher unwahrscheinlich

Was ist also passiert? Meldungen von Wahlmanipulationen gingen ein, viele waren es aber nicht; es wurde von Soldaten berichtet, die kurdische Wähler aufgehalten und ihnen die Pässe abgenommen haben sollen, aus Istanbul kamen Bilder von Säcken voll mit ausgefüllten Wahlzetteln und viele Wahlbeobachter beklagten Behinderungen in den Wahllokalen durch AKP-Funktionäre. Allerdings handelt es sich nur um punktuelle Berichte, stichhaltige Indizien für einen umfangreichen Wahlbetrug gibt es (noch) nicht. Allein der Umstand jedoch, dass die Behinderung einer Wahl durch staatliche Sicherheitskräfte oder Funktionäre der Regierungspartei – egal in welchem Ausmaß – nicht einmal mehr als „richtige“ Wahlmanipulation aufgefasst wird und kaum Empörung hervorruft, spricht Bände über den Zustand der türkischen Demokratie.

Sind also in der Türkei alle Meinungsforschungsinstitute unfähig? Die Verantwortlichen der jeweiligen Institute haben bis jetzt zumindest keine Erklärungen liefern können, was der Grund für ihr Scheitern ist. Bisher haben die Leiter der großen Institute unisono betont, dass sie selbst vom Ergebnis überrascht seien und sich für ihre falschen Prognosen entschuldigen würden. So schrieb Hakan Bayrakçı, Leiter des Instituts SONAR: „Das war ein schwerer Irrtum. Die Untersuchungen konnten dieses Ergebnis nicht feststellen. Der Aufschwung konnte nicht gesehen werden. Deswegen entschuldigen wir uns bei allen, die uns verfolgen und die uns vertraut haben.“

Plötzlicher Popularitätssprung für die AKP?

Eine andere theoretische Erklärung wäre die Zeitspanne zwischen den Umfragen und den Wahlen. Hat die AKP in den letzten Tagen vor der Wahl einen plötzlichen, wundersamen Aufschwung erlebt? Die A&G-Prognose, die als einzige dem tatsächlichen Endergebnis halbwegs nahekommt, stammt vom 25. Oktober, ist also eine der letzten, die erhoben wurden. Allerdings haben auch Gezici, KONDA und Andy-AR zum gleichen Zeitpunkt oder sogar später ebenfalls noch letzte Umfragen durchgeführt, bei denen die AKP auf die üblichen Werte zwischen 41,7% (KONDA) und 43,7% (Andy-AR) kam, was wiederum gegen die Vermutung spricht, sie könnte in den letzten 48 Stunden vor der Wahl einen Riesensprung in der Wählergunst gemacht haben.

Wodurch also dieses Scheitern? Wie kann es passieren, dass alle Meinungsforschungsinstitute zu einheitlich falschen Ergebnissen kommen (mit Ausnahme einer einzigen Studie eines einzigen Instituts)? Noch dazu, wo viele dieser Institute noch vor 5 Monaten gute bis sehr gute Ergebnisse abgeliefert haben? Diese Fragen werden die türkischen Demoskopen in den nächsten Tagen zu beantworten haben, denn sie werden eine Menge Vertrauen zurückgewinnen müssen.


Hier eine Aufstellung aller Wahlprognosen inklusive des Erhebungszeitraums:

Zusammenfassung aller Wahlprognosen vor der Parlamentswahl am 1.November