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Politik

„Wahrer“ Islam, politische Macht und religiöse Intoleranz

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Der muslimische Theologe und Soziologe Ali Bulaç geht der Frage nach, wieso es den Muslimen in der Moderne nicht gelingt, einen religiösen Pluralismus zu praktizieren. Die Ursachen dafür sieht er bereits in dert Entstehungszeit des Islam.

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Wenn wir als Muslime der Ansicht sind, eine Botschaft zu haben, die sich an die gesamte Menschheit richtet, so müssen wir befriedigende und überzeugende Antworten auf folgende Fragen bieten:

Was verstehen wir unter Islam? Was für eine Welt wollen wir auf Grundlage von islamischen Werten und Geboten errichten? Warum versinkt die islamische Welt im Chaos und ist selbst hilfsbedürftig? Unterschiedlicher Meinung zu sein, ist eine menschliche Eigenart. Daher ist es zu einem bestimmten Maß normal, dass es auch unter Muslimen unterschiedliche Meinungen gibt und diese zu Konflikten führen. Warum gelingt es ihnen aber nicht, diese auf Grundlage von islamischen Vorgaben zu regeln, obwohl sie von sich behaupten, Muslime zu sein? Liegt der Grund hierfür im Wesen des Islam oder hat es mit der Religiosität der Muslime zu tun, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden ist?

Aus Erfahrung wissen wir, dass in der Vergangenheit und in der Gegenwart Menschen, die von sich behaupten, im Namen des Islams zu sprechen, den Islam unterschiedlich auffassen. Manche von ihnen wollen die Religion aufrichtig praktizieren und andere dazu einladen, es ihnen gleich zu tun. Andere wiederum wollen einen möglichst großen Nutzen aus der Religion ziehen, um individuelle, kollektive oder nationale Interessen zu verwirklichen.

Es ist völlig normal, dass es innerhalb einer Religion verschiedene Gruppen gibt, unterschiedliche Auslegungen existieren und sich unterschiedliche Glaubens- und Rechtsschulen bilden. Eine Religion, die nicht offen für Mehrdeutigkeit und verschiedene Interpretationen ist, verkommt zur einer totalitären Despotie und verschwindet mit der Zeit von der Bildfläche. Mehrere Interpretationen und Auslegungen sind eine Bereicherung für die Angehörigen einer Religion und führen zudem zu geistiger Tiefe und zur Vielfalt. Allerdings betrachten die Muslime in der Moderne Meinungsverschiedenheiten nicht aus dieser Perspektive. Sie beschuldigen sich gegenseitig, entweder vom Glauben abgekommen zu sein oder die Religion für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Egal welche Gruppe man fragt, man bekommt die Antwort, dass ihr Weg der einzige zur Erlösung ist, ähnlich wie die Arche Noah.

Der Missbrauch des Islam für weltliche Interessen

Doch lediglich mit der Rivalität unter muslimischen Gruppen ist es nicht getan. Auch laizistische Kreise beschuldigen religiöse Gruppen, die den öffentlichen Raum auf Grundlage religiöser Regeln gestalten wollen, entweder damit die Religion zu missbrauchen oder ein autoritär-totalitäres Regime auf religiöser Basis errichten zu wollen. Laizisten, die eine moderne Bildung genossen haben, sehen Religion und Gläubige als Bedrohung für die öffentliche Ordnung. Sicherlich gibt es viele Negativerfahrungen, die die Ängste der Laizisten zum Teil bestätigen. Dazu gehört unter anderem das Aufkommen radikaler Gruppen und Organisationen, die alle Andersdenkenden als Feinde brandmarken und im Namen der Religion Sünden und Schandtaten begehen, die vom Islam untersagt werden.

Doch die ideelle Grundhaltung der Laizisten ist nicht nur durch die aktuellen Ereignisse zu erklären. Die allgemeine Anschuldigung des „Missbrauchs der Religion“ oder der „Instrumentalisierung der Religion“ gegen die Islamisten fußt auf einer eher schwachen theoretischen Grundlage. Wenn unter „Missbrauch“ die opportunistische Instrumentalisierung und Entfremdung der Religion gemeint ist, so tun dies entweder Einzelpersonen, Gruppen oder Staaten. Theologisch würde man in diesem Falle von Mangel an Aufrichtigkeit (ihlas) unter den Muslimen sprechen. Anders gesagt: Sie richten ihre Handlungen nicht nur auf das Wohlwollen des Schöpfers aus, sondern auch nach bestimmten Eigeninteressen. Dass der Islam nicht seinen eigentlichen Zielvorstellungen entsprechend, sondern bestimmten weltlichen und nationalen Interessen gemäß missbraucht wird, ist nicht nur ein Problem der Gegenwart. Es hat seine Wurzeln wahrscheinlich bereits in der Anfangszeit des Islam.

Es wäre nicht falsch zu sagen, dass der erste bedeutende Konflikt in der islamischen Geschichte aus weltlichen Interessen und Machtansprüchen entstanden ist. Der Kampf zwischen dem ersten Ummayaden-Kalifen Muʿāwiya, der ein Machtmonopol für seinen Stamm beanspruchte, und dem vierten rechtgeleiteten Kalifen Ali, der sich vielmehr der spirituellen Botschaft des Islams widmete, sind ein passendes Beispiel hierfür. Auch die Abbasiden, die der Umayyaden-Herrschaft ein Ende bereiteten, nutzten den Islam, um ihre Herrschaft zu legitimieren. Die gegen die Fatimiden konkurrierenden Seldschuken und Osmanen proklamierten die sunnitische Ausrichtung als einzig wahren Weg und erklärten ihre Gegner zu Abtrünnigen.

Das erste und wichtigste für die Gegenwart ist es, den Islam zuallererst aus den Händen von allen politischen Schacherern und ungerechten Machtausbeutern zu befreien. Denn Außenstehende sehen die Praxis der Instrumentalisierung des Islam durch die Missbraucher als die Religion selbst, die nicht in der Lage ist, Ethik und Gerechtigkeit hervorzubringen.