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Politik

Warum die Taksim-Proteste alles andere als “historisch” sind

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Nein, die Demonstranten in Istanbul werden nicht vom Ausland bezahlt. Und nein, die Proteste werden keinen neuen Aufbruch schaffen und eine Revolution schon gar nicht. Vielmehr ist alles nur ein Symptom eines gespaltenen Landes. (Foto: epa)

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Warum die Taksim-Proteste alles andere als “historisch” sind
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Die Taksim-Proteste haben von neuem gezeigt, dass gesellschaftliche und politische Ereignisse in der Türkei sich ihr symbolisches Schlachtfeld suchen. Viele sehen die Ereignisse als historische Entwicklung, andere wittern eine Initialisierung mit internationaler Rückendeckung. Regierungsfreundliche Kräfte sehen die Taksim-Ereignisse eher als internationale Verschwörung gegen die Türkei und die türkische Regierung. Regierungsgegner wiederum überhöhen sie zum wichtigsten Moment der Geschichte der modernen Türkei.

Verschwörungstheorien sind ein fast alltäglicher Bestandteil des politischen Denkens in der Türkei. Obwohl es Verschwörungstheoretiker in allen Ländern gibt, ist die Situation in der Türkei eine besondere: Ihnen wird hier gesellschaftlich und intellektuell ein besonders hohes Maß an Glaubwürdigkeit zugemessen. So sehen selbst angesehene Historiker die Gründung der türkischen Republik als Resultat einer britischen Verschwörung, ähnlich angesehene Journalisten die Gründung der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) als jenes einer amerikanisch-jüdischen. Es gibt sogar Theorien über Verschwörungen in der Verschwörung: Beispielsweise soll einigen Blogs und Kolumnisten zufolge soll Premierminister Erdoğan die Taksim-Proteste als Mittel zur Konsolidierung seiner Wählerschaft vor dem Wahljahr 2014 betrachten.

Üblicherweise ist es die angegriffene oder schwächere Seite in einer politischen Auseinandersetzung, die zu Verschwörungstheorien greift, um sich selbst zu verteidigen. Konservative Gruppen und regierungsfreundliche Journalisten waren schnell bei der Sache, als es darum ging, die Proteste als Resultat einer Verschwörung zu qualifizieren, die von globalen Akteuren finanziert und beworben und von lokalen Repräsentanten ausgeführt wird.

Warum jeder Zoo in der Türkei etwas „Historisches“ hat

Übrigens sollte in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass es die Koç Holding als einziger türkischer Konzern in den Top 500 der Welt geschafft hat, sowohl säkulare als auch konservative Verschwörungstheorien zu inspirieren. Sie ist die meisterwähnte Gruppierung im türkischen Verschwörungslexikon – und ich habe meinen Beitrag dazu geleistet, als ich mit der gebührenden Ironie darauf hingewiesen hatte, dass diese Holding zu den Sponsoren der Türkischolympiade gehört, sie von der Gülen-Bewegung organisiert wird und dass das doch auf politische Verwicklung hinweisen würde. Es wäre nur nicht sicher, ob dies bedeutet, dass die Gülen-Bewegung durch den globalen Kapitalismus unterstützt werde oder ob Koç damit eine symbolische Botschaft an die Regierung senden wollte.

Der Übersteigerungs-Ansatz ist dem der Verschwörung diametral entgegengesetzt. Wer sich ideologisch in einer Bewegung wiederfindet, sieht ihre großen Momente immer gerne als „historisch“ an. In der türkischen Politik und Mediensprache ist man schnell, wenn es darum geht, das „Historische“ im Gewöhnlichen zu entdecken. Von „historischen Reden“ oder einem „historischen Treffen“ hört man im Regelfall mehrmals in der Woche. In der Tat markieren alle Nationen in der Nachbetrachtung ihre Meilensteine. Aber das ist nicht das Gleiche wie ein Ereignis von vornherein für „historisch“ zu erklären. Diese Form der Rhetorik beeinflusst Menschen aber. Und deshalb ist die Türkei voll von Zoos, Talsperren und Spitälern, die entweder „die größten in Europa“ oder zumindest auf dem Balkan wären.

Ausgewogene Analyse? Fehlanzeige!

Übersteigerung schafft ein Balanceproblem: Es macht Menschen weniger kritisch gegenüber ihren Ländern und deren politischen Systemen. Nicht wenige beginnen sogar zu glauben, alles in der Türkei laufe perfekt. Was wir brauchen, ist ein ausgewogener Zugang zu allen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen, auch zu den Taksim-Protesten. Das Problem ist, dass ein Ereignis dieser Art schnell zu einem diskursiven Schlachtfeld der unterschiedlichen Lager wird. Dadurch verliert die türkische Öffentlichkeit den Blick für die Eigendynamik solche Ereignisse und macht daraus eine Generalabrechnung mit der Politik Erdoğans, eine globale Verschwörung oder was auch immer.

Aus seiner Makroperspektive zeigen die Taksim-Proteste lediglich einmal mehr, dass die Türkei eine gespaltene Gesellschaft ist. Diese ist nicht mal in der Lage, einen einfachen städteplanerischen Vorschlag zu evaluieren, weil in diesem Land jede Debatte durch die gesellschaftlichen und politischen Spaltungen in ein Chaos verwandelt wird. Realistisch gesehen braucht die Türkei immer noch Zeit, um einen umfassenden neuen Gesellschaftsvertrag zu erarbeiten. In der Zwischenzeit dürfte es Sinn machen, den Staatseinfluss in jedweder Hinsicht zu minimieren.