Politik
Warum ist der Flüchtlingspakt mit der Türkei so umstritten?
Die Botschaft war deutlich: „Kommen Sie nicht nach Europa“, hat Gipfelchef Donald Tusk den Flüchtlingen jüngst zugerufen. Doch Appelle reichen nicht, die EU setzt auf Abschreckung. Ist der geplante Deal mit Ankara rechtens?
Zur Bewältigung der Flüchtlingskrise setzt die EU ihre Hoffnung in die Türkei. Beim EU-Gipfel soll eine Vereinbarung mit Ankara festgezurrt werden, die Migranten von der Überfahrt nach Griechenland abhalten soll. Doch das Ganze ist hochkomplex und juristisch umstritten. „Wir müssen wirklich sicherstellen, dass das rechtlich wasserdicht ist“, mahnt der niederländische Regierungschef Mark Rutte. Ein Überblick.
Was sieht die geplante Flüchtlingsvereinbarung zwischen der EU und der Türkei vor?
Für jeden Syrer, der von den griechischen Inseln zurück in die Türkei geschickt wird, nimmt die EU einen anderen Syrer aus der Türkei auf. Dies soll Migranten davon abhalten, mit Hilfe von Schleppern nach Griechenland zu kommen – denn damit würden sie ihre Chancen auf eine Zukunft in Europa aufs Spiel setzen. Es gehe darum, „das Geschäftsmodell der Schleuser zu zerschlagen“, sagen europäische Politiker.
Wer unerlaubt auf die griechischen Inseln kommt, soll zunächst nicht für eine Aufnahme in der EU in Frage kommen. Migranten aus anderen Staaten würden ebenfalls in die Türkei zurückgeschickt, egal ob es um Bürgerkriegsflüchtlinge geht oder um Menschen, die aus wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen haben.
Wie soll das gehen – es gibt doch ein Recht auf Asyl?
Das Schlüsselwort heißt „sicherer Drittstaat“. Damit Griechenland Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken kann, muss es das Land zunächst als solchen anerkennen. Das hat Athen in die Wege geleitet. Die EU als Ganzes müsste das nicht ausdrücklich unterschreiben.
Was würde das konkret bedeuten?
Nach europäischem Recht gibt es zwei Möglichkeiten für ein EU-Land, diese Einstufung zu machen – mit unterschiedlichen Folgen für das Asylverfahren. Dabei gilt: Im ersten Fall sind die Anforderungen an das Drittland hoch und die Ausweisung ist relativ leicht. Im zweiten Fall ist die Anerkennung als sicherer Drittstaat einfacher, dafür hat der Asylbewerber mehr Rechte.
Welches Verfahren hat die EU in diesem Fall im Blick?
Sie will den zweiten Fall anwenden und damit die Latte für die Türkei weniger hoch legen. Für die Anerkennung müsste das Land die Genfer Flüchtlingskonvention nicht in vollem Umfang unterzeichnet haben, sondern Flüchtlingen lediglich Schutz „gemäß“ der Konvention gewähren. Ob das so ist, muss Griechenland klären. Es sei nicht an EU-Juristen, das zu entscheiden, meint ein EU-Mitarbeiter. Die Türkei hat die Lebensumstände für Syrer zuletzt verbessert, zum Beispiel hat sie Möglichkeiten für legale Arbeit geschaffen.
Was bedeutet das für Asylbewerber?
Sie haben Anspruch darauf, dass Griechenland ihren Einzelfall prüft. Eine Ausweisung könnten sie verhindern, wenn die Türkei für sie doch nicht sicher ist. Sie müssen auch die Möglichkeit haben, ihr Anliegen vor Gericht zu bringen. Syrische Kurden könnten zum Beispiel auf den Konflikt zwischen der Regierung und der kurdischen Minderheit in derTürkei verweisen. „Es kann keine Pauschal-Rückführungen geben“, unterstreicht der Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans.
Ginge das alles noch einfacher?
Ja. Aber dafür müsste die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention ohne Einschränkungen unterzeichnet haben. Doch das Land sieht umfassenden Schutz inklusive Asyl nur für Flüchtlingen aus Europa vor. Hintergrund für diese Regelung war die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Allen übrigen Schutzsuchenden erlaubt das Land nur einen „vorübergehenden“ Aufenthalt, bis sie in ein anderes Land umgesiedelt werden können.
Wie schnell könnten Migranten wieder zurückgeschickt werden?
Das wird von den Kapazitäten der griechischen Behörden und Gerichte abhängen und davon, wie viel Unterstützung sie von der EU bekommen. Ein EU-Diplomat berichtet, in seinem Heimatland sei ein Asylverfahren binnen 48 Stunden abgeschlossen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) unterstreicht: „Es ist natürlich wichtig, dass jeder Flüchtling auch individuell betrachtet wird und seine Rechte wahrnehmen kann.“
Menschenrechtler verdammen die geplante Vereinbarung als schlechten Deal für Flüchtlinge. Könnte die Abmachung am Ende vor Gericht landen?
Ja. Einzelne Flüchtlinge könnten vor Gericht die Frage aufwerfen, ob die Türkei überhaupt die Voraussetzungen für die Anerkennung als sicherer Drittstaat erfüllt. Im Zweifel würde ein griechisches Gericht die Frage dann dem EU-Gerichtshof vorlegen. Menschenrechtsorganisationen könnten solche Klagen unterstützen.
Doch für die EU ist das vielleicht gar nicht so wichtig. Ein EU-Diplomat weist auf die Dauer eines solchen Rechtsstreits hin. Bis ein Urteil fallen würde, hätte die Regelung längst ihre abschreckende Wirkung entfaltet und Flüchtlinge würden kaum noch versuchen, die griechischen Inseln zu erreichen, so die Hoffnung.
Kommen Flüchtlinge dann überhaupt noch nach Europa?
Ja. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Syrer, Iraker oder Afghanen könnten aus der Türkei oder anderen Staaten wie dem Libanon in die EU umgesiedelt werden. Dafür gibt es Programme einiger EU-Länder. Belgiens Premier Charles Michel spricht von „einem klaren Risiko, dass auf andere Routen ausgewichen wird“. Insbesondere Italien fürchtet das – denn bei der Abmachung mit der Türkei geht es nur um die griechischen Inseln. Künftig könnten wieder mehr Migranten die Überfahrt aus Libyen wagen oder versuchen, über die Landgrenze aus der Türkei nach Bulgarien zu kommen. (dpa/ dtj)