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Politik

Was der türkischen Öffentlichkeit ohne kritische Presse verborgen geblieben wäre

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Die Ausstrahlung von Kanälen wird untersagt, Chefredakteure werden verhaftet. Die kritische Presse hat in der Türkei einen schweren Stand – und das nicht erst seit gestern. Was wäre der Öffentlichkeit ohne ihre Arbeit verborgen geblieben?

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Wende im Fall Bülent Keneş. Der Chefredakteur der englischsprachigen Tageszeitung regierungskritischen Todayszaman soll nun doch verhaftet werden. Das hat die Staatsanwaltschaft in Istanbul am Freitag beantragt.

Am Donnerstag war Keneş mit einem Ausreiseverbot belegt worden. Ihm wird vorgeworfen, den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan beleidigt zu haben.

Die Staatsanwaltschaft begründete ihre neuerliche Entscheidung damit, dass Keneş nach dem gestrigen Urteil weiter aktiv auf Twitter gewesen sei. Der Journalist hatte am Nachmittag angekündigt, weiter kritisch zu sein und sich nicht den Mund verbieten zu lassen.

Es ist der vorläufig letzte Höhepunkt einer Entwicklung in der Türkei, die die kritische Presse langsam aber allmählich die Luft nimmt.

Was ist die Aufgabe von Medien und Politik?

Die Beziehung zwischen Medien und der Politik ist in einer Demokratie selten eine Liebesbeziehung. Auf dem Papier ist die Rollenverteilung klar definiert: Politik hat die Aufgabe, auf Grundlage der Verfassung das Land zu führen, Entscheidungen zu treffen und dabei nicht nach Selbstnutzen zu trachten, sondern das Gemeinwohl im Blick zu behalten. Von den Medien hingegen wird erwartet, dass sie über das politische Geschehen berichten, die Arbeit der Politiker und Bürokraten kritisch begleiten und kommentieren. Weil sie damit eine wichtige Aufgabe für den demokratischen Charakter des politischen Systems erfüllen, sind sie durch das Recht auf Presse- und Meinungsfreiheit geschützt. Eine echte Demokratie ist somit ohne freie Medien nicht denkbar.

So weit so gut. Was aber, wenn einflussreiche Medienhäuser, wie oft in der jungen Geschichte der türkischen Republik, politische Gestalter sein wollen oder wenn Politiker Medien mit staatlicher Macht unter Druck setzen, gar zum Schweigen bringen wollen, wie es aktuell in der Türkei der Fall ist? Was, wenn das Wahlvolk nicht mehr an Informationen gelangt, die wichtig für die öffentliche Meinungsbildung sind? Kann in diesem Fall von einer Demokratie gesprochen werden?

Über die folgenden Ereignisse wäre die türkische Öffentlichkeit nicht ausreichend und richtig informiert worden, falls es keine regierungskritischen Medien gegeben hätte:

Die Debatte um den Präsidentenpalast Aksaray

Der Präsidentenpalast auf der Beştepe-Anhöhe in Ankara sollte der Öffentlichkeit als Triumph verkauft werden, der das internationale Ansehen der Türkei steigert. Ohne engagierte Journalisten hätte niemand erfahren, dass der neu errichtete Kolossalbau auf dem unter Naturschutz stehenden Areal der Waldfarm Atatürks widerrechtlich erbaut wurde und der Strom- und Gasverbrauch des Prunkbaus größer ist als der von Städten wie Bayburt. Auch hätte niemand erfahren, dass der Palast rund 1150 Zimmer besitzt und die staatliche Wohnungsbaubehörde (TOKİ) die Zahl der Kosten nicht offenlegen wollte, weil sie negative Auswirkungen auf die Wirtschaft des Landes befürchtete. Für die Entstehung einer differenzierten öffentlichen Meinung ist es keineswegs irrelevant, dass die Bevölkerung weiß, was mit ihren Steuergeldern passiert und ob sich die Regierung an geltendes Recht und Gesetz hält.

Der Aufschrei des Oberstleutnants Mehmet Alkan

In der Bevölkerung lösten in den letzten zwei Monaten die Nachrichten von gefallenen Soldaten große Empörung aus. Der Zorn vieler Angehöriger richtete sich nicht ausschließlich gegen die Terrororganisation PKK, sondern auch gegen Präsident Erdoğan und die AKP-Regierung. Auf der Beerdigung seines gefallenen Bruders stellte Oberstleutnant Mehmet Alkan vor laufenden Kameras emotional sichtlich erschüttert folgende Frage: „Warum sprechen diejenigen, die bis heute von einer friedlichen Lösung sprachen, jetzt nur noch von Krieg?“ Doch regierungsnahe Medien ignorierten Alkan. Neun regierungsnahe Zeitungen druckten nichts über seinen Aufschrei. Schließlich traf man die Entscheidung, lediglich die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı und den Staatssender TRT von der Beerdigung des gefallenen Soldaten berichten zu lassen. Die Regierung war offensichtlich in Sorge vor dem Zorn der Bevölkerung.

Waffentransporte an den IS

Von den mit Waffen prall gefüllten LKWs erfuhr die türkische Bevölkerung erst, nachdem die Tageszeitung Cumhuriyet darüber berichtete. Auch wenn die Regierung nach Bekanntwerden der Waffenexporte nach Syrien behauptete, diese seien für die dortigen Turkmenen gedacht, weiß niemand, ob und wie viele der Waffen tatsächlich in die Hände des IS gefallen sind. Die Enthüllungen der Cumhuriyet werden als einer der wichtigsten Beweise zur Bestätigung der vielfach angenommenen These betrachtet, dass die türkische Regierung die Terrormiliz IS unterstützt hat. Ohne mutige Journalisten wie Can Dündar, die sich mit der Regierung und dem Staat anlegen und vielfache Repressionen zu befürchten haben, wäre das vielen nicht bewusst geworden.

Transparenz bei den Wahlen

Bei allen Wahlen der letzten zwei Jahre war die Nachrichtenagentur Cihan Cyberangriffen ausgesetzt. Woran das lag, war offenkundig. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı zeigte bei den Parlamentswahlen vom 7. Juni zunächst den Wert der AKP mit 55% an. Cihan, benannte den Stimmenanteil der AKP zu Beginn der Auszählung mit 42% und beendete diesen Wert schließlich mit 40,6%.

Stimme der Opposition

Ohne freie Medien hätte die Opposition keine Möglichkeit, für ihre Arbeit Gehör zu finden. Ein Negativbeispiel hierfür liefert der staatliche Sender TRT, der zwar aus den Steuermitteln der gesamten Bevölkerung finanziert wird, jedoch vor den Kommunalwahlen vom 30. März 2014 im Zeitraum zwischen dem 22. Februar und 4. März rund 13 Stunden der AKP zur Verfügung stellte und den zwei großen Oppositionsparteien MHP 48 Minuten sowie der CHP 45 Minuten. Die HDP kam auf nur 2 Minuten.

Korruptionsaffäre

Auch hätten die Bürger von der Korruptionsaffäre nicht erfahren, wenn die freie Presse nicht von geldgefüllten Schuhkartons und Scheinzählern berichtet hätte. Regierungsnahe Medien berichteten, die Kartons seien von den ermittelnden Polizisten hingestellt worden und nahmen Reza Zarrab und seine Leute in Schutz, die später das umstrittene Geld verzinst zurückbekamen.

Staat-Mafia-Beziehungen

In Susurluk, einem Landkreis der westtürkischen Stadt Balıkesir, ereignete sich am 3. November 1996 ein Verkehrsunfall, der die Beziehungen zwischen Staat und Mafia in der Türkei zur Schau stellte. In dem Wagen, der frontal gegen einen Lastwagen prallte, saßen ein Parlamentsabgeordneter, der ehemalige Chef der Istanbuler Polizei sowie ein bekannter Name aus der Mafiaszene der Türkei. Insbesondere durch die Berichte der Tageszeitung Radikal setzte sich der Begriff eines „Tiefen Staates“ durch und lenkte die Aufmerksamkeit auf dunkle Machenschaften zwischen dem Staat und der Mafia.

Tritte gegen einen Bergbauarbeiter in Soma

Yusuf Yerkel, damaliger Berater des Premierministers, wurde von den Kameras aufgenommen, als er einen auf dem Boden liegenden Bergbauarbeiter mit den Füßen eintrat. Dieser Vorfall ereignete sich, nach dem mehr als 300 Menschen bei einem Bergwerkunglück in Soma ihr Leben verloren.

Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Regierung, die auf die Stimmen des Wahlvolkes angewiesen ist, ein vitales Interesse daran hat, in der öffentlichen Wahrnehmung gut dazustehen. Es ist deshalb sogar nachvollziehbar, dass nicht alle Informationen bereitwillig von ihr geteilt werden. Eine umso wichtigere Rolle spielt deshalb aber die freie Presse in einer Demokratie und ihren Spielraum einzuschränken, anstatt die Konsequenzen für offensichtliche Verfehlungen zu ziehen, zeugt von einem mehr als mangelhaften Demokratieverständnis.

Selbstverständlich müssen auch kritische Medien gewissenhaft und wahrheitsgetreu arbeiten. Aber ob sie das tun, darf nicht die Regierung kontrollieren, sondern unabhängige Gremien. Ein Blatt, das ohnehin keine journalistischen Standards einhält, wird auf Sicht keine Käufer bzw. Leser finden. Mit Verboten kommt man in einer Demokratie nicht weit.