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Politik

Was Journalisten in 30 Jahren aufgebaut haben, hat die AKP-Regierung in drei Jahren zerstört

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Protest gegen die Schliessung von Zaman
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Falls es die Tageszeitung Zaman noch geben würde, hätte sie am 4. November 2016 ihr 30-jähriges Jubiläum gefeiert. Das konnte sie aber nicht. Denn die AKP-Regierung ließ am 4. März die Redaktion der zu diesem Zeitpunkt auflagenstärksten Tageszeitung des Landes unter Einsatz der Knüppel und Tränengasgranaten der Polizei stürmen. Die Zeitung wurde staatlichen Zwangsverwaltern unterstellt und die gesamte Chefredaktion sowie ihre prominentesten Kolumnisten entlassen.

Nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurde sie dann endgültig Opfer der großangelegten „Säuberungen“, die Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan seitdem in Staat und Gesellschaft durchführt. Zaman wurde endgültig geschlossen. Die Zeitung gibt es in der Türkei nicht mehr und Ende November muss auch ihre Deutschlandausgabe eingestellt werden. Zwar wird Zaman Almanya von einem Unternehmen nach deutschem Recht herausgegeben und konnte deshalb keinem Zwangsverwalter unterstellt werden. Doch war sie seit dem 5. März 2016 von ihrem Mutterhaus in Istanbul abgeschnitten. Und auch in diesem Falle reichte Erdoğans langer Arm bis nach Deutschland. Aufgrund politischen Drucks und konkreter Repressalien gegen Leser, Abonnenten und Anzeigenkunden musste auch die deutsche Redaktion in Berlin ihre Arbeit einstellen.

30 Jahre journalistischer Arbeit und wirtschaftlichen Aufstiegs finden ein trauriges Ende 

Die Reise von Zaman begann am 3. November 1986 in Istanbul. Als eine Zeitung, die aus der Hizmet-Bewegung entstanden ist, hat sie sich vom ersten Tag an für die Stärkung demokratischer Grundrechte und die Westorientierung der Türkei eingesetzt. Sie war die Zeitung eines bildungsbewussten, muslimischen Bürgertums, das als Folge der Binnenmigration seit den 1950er Jahren in den Städten entstanden ist. Die liberal-wertkonservative Zaman setzte sich für die Stärkung der Zivilgesellschaft gegenüber einem autoritären Staat ein, in dem oft nicht die gewählten Parlamentarier das letzte Wort hatten, sondern die Militärs. Sechs Jahre, bevor die erste Zaman-Ausgabe erschien, hatte das türkische Militär, das sich als Wächter des kemalistischen Regimes sah, geputscht und die Macht an sich gerissen. Auch wenn das Land 1983 wieder zu einer zivilen Regierung überging, war es doch eine hinkende Demokratie, in der die Generäle im Hintergrund die Marschrichtung vorgaben.

Für Zaman ging es seit ihrer Gründung immer bergauf. Die Zeitung steigerte stetig ihre Abonnentenzahlen und überschritt im Jahr 2011 die Grenze von einer Million Leser. Auch wenn sie diese Marke nicht halten konnte, blieb sie doch bis zu der staatlichen Übernahme durchgehend die auflagenstärkste Zeitung des Landes.

In den 1990er Jahren gingen darüber hinaus noch andere Medien aus ihr hervor, darunter die Nachrichtenagentur Cihan News Agency, die Wochenzeitschrift Aksiyon, die englischsprachige Tageszeitung Today‘s Zaman und die Tageszeitung Meydan. Bereits im April 1990 kam Zaman auch nach Deutschland. Daneben wurde sie in zehn weiteren Ländern gedruckt und in 35 Ländern vertrieben. Auch hierzulande konnte sie bis zu der Krise, die ihren Anfang im Korruptionsskandal vom 17. Dezember 2013 nahm, stetig wachsen.

In den vergangenen drei Jahren hat die türkische Regierung ein weltweit tätiges, sprachlich und inhaltlich vielseitiges Mediennetzwerk, das seinen Hauptsitz in Istanbul hatte, systematisch zerstört. Ein Mediennetzwerk, das mit der Mühe und der Arbeit hunderter fleißiger Händen und kritischer Köpfen aufgebaut wurde, existiert nicht mehr. Zu den Kolumnisten der Zeitung gehörten zahlreiche namhafte Intellektuelle unterschiedlicher weltanschaulicher Ausrichtung, darunter der Politikwissenschaftler Şahin Alpay, der Soziologe und Theologe Ali Bulaç, die Sicherheitsexpertin Lale Kemal und der Politologe Mümtaz’er Türköne. Für sie und viele andere war Zaman eine Plattform, auf der sie frei zur öffentlichen Meinungsbildung beitragen und demokratische Grundwerte verteidigen konnten.

„Unter dieser Kuppel sollte jeder einen Platz haben“

Hunderte von Redakteuren sind nun arbeitslos, Dutzende sitzen im Gefängnis oder konnten einer Verhaftung nur zuvorkommen, indem sie ins Exil gingen. Zaman und die Bewegung, aus der sie hervorgegangen ist, werden vom Erdoğan-Regime als Terrororganisation eingestuft und erbarmungslos verfolgt. Über die astronomischen Zahlen von über 75.000 Festgenommenen, über 30.000 Menschen im Gefängnis (davon mittlerweile an die 150 Journalisten), 100.000 aus dem Staatsdienst Entlassenen oder Suspendierten, 6000 gefeuerten Akademikern, den über 180 geschlossen Medien und den Milliarden an Unternehmenswerten, die der Staat willkürlich enteignet und sich selbst überschrieben hat, wird auch in den deutschen Medien regelmäßig berichtet. Dabei trifft es bei Weitem nicht nur Mitglieder oder Anhänger der Hizmet-Bewegung, sondern auch Kurden, Linke, Kemalisten – kurz: alle, die nicht an der Seite der Erdoğan-Regierung stehen. Ali Bulaç ist einer von ihnen. Er wird wie viele andere Schriftsteller von der türkischen und internationalen Öffentlichkeit der Vergessenheit überlassen.

Der Autor von mehr als 20 Büchern sagt, dass er sich selbst gestellt habe, als er hörte, dass die Polizei nach ihm sucht. „Ich wurde von den Polizisten sofort dem Richter vorgeführt und weiß immer noch nicht, was mir die Staatsanwaltschaft vorwirft. Ich habe ein Konto bei der Bank Asya gehabt, auf das lediglich mein Gehalt überwiesen wurde.“ Bulaç, der in den 1990er Jahren knapp vier Jahre lang als Berater für den damaligen Oberbürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdoğan tätig war, beschäftige sich in seinen Werken mit der Frage, wie das Zusammenleben in der Türkei angesichts der politischen, religiösen und ethnischen Verschiedenheit gelingen kann: „Linke, Rechte, Atheisten, Kommunisten, Muslime, alle sollten zueinander finden und eine große Kuppel bilden. Die Säulen dieser Kuppel sollten Freiheit, Moral, Gerechtigkeit und Gemeinschaftssinn sein. Unter dieser Kuppel sollte jeder einen Platz haben.“

Bulaç formuliert auch hinter Gittern sein Ziel, für das er seit über 40 Jahren lebt und kämpft. Sein Land ist aber soweit wie noch nie seit der Gründung der Republik von diesen Zielen entfernt. Bulaç und andere inhaftierte Schriftsteller und Journalisten stehen aber nicht nur für die Ideen, an denen sich die türkische Gesellschaft neu orientieren kann. Sie sind auch wichtige Hoffnungsträger, da sie sich vom Erdoğan-Regime nicht vereinnahmen ließen. Sie sind standhaft geblieben. Und vielleicht sind ja die Aussagen von  Bulaç gerade heute wichtig. Wie heißt es doch in einem bekannten Sprichwort: Die Nacht ist am dunkelsten, kurz bevor die Sonne aufgeht.