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Politik

Weniger Stimmen, mehr Sitze: Warum die HDP die MHP übertrumpft

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Sowohl die MHP als auch die HDP mussten bei der Parlamentswahl am Sonntag empfindliche Stimmeneinbußen verkraften. Wie aber kommt es, dass die HDP auf mehr Sitze kommt als die MHP, obwohl sie mehr Stimmen bekam?

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Die MHP und die HDP sind die beiden größten Verlierer der gestrigen Wahl. Während Devlet Bahçelis Nationalisten von 16,3 auf unter 12% rutschten, war es bei der pro-kurdischen Partei zeitweise eine Zitterpartie, ob sie es überhaupt ins Parlament schafft. In den Hochrechnungen der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı war sie zeitweise auf 10,1% abgerutscht, schaffte den Einzug ins Parlament dann aber nach aktuellem Kenntnisstand noch recht deutlich.

Schaut man sich aber die voraussichtliche Sitzverteilung im Parlament an, so fällt einem ein Kuriosum des türkischen Wahlsystems auf, das viele als ungerecht empfinden dürften: Obwohl die MHP bis zu anderthalb Prozent mehr Stimmen erhalten hat, zieht sie mit 40 Abgeordneten ins neue Parlament, während die HDP-Fraktion voraussichtlich 60 Sitze hat, also anderthalb mal so viele wie die MHP. Wie kommt diese bemerkenswerte Diskrepanz zustande?

Die Ursache liegt im Verteilungsschlüssel für die jeweiligen Provinzen. In der Türkei wird nach einer Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht gewählt. Das Land hat 81 Provinzen, von denen jede einen Wahlkreis darstellt, wobei die Millionenstädte Istanbul, Ankara und Izmir Ausnahmen darstellen, da sie wegen ihrer Bevölkerungszahl in drei (Istanbul) beziehungsweise zwei Wahlkreise aufgeteilt wurden. Dabei wird jedem Wahlkreis nach einem Verteilungsschlüssel seiner Bevölkerungszahl entsprechend eine bestimmte Anzahl Abgeordneter zugewiesen. Diese ist jedoch nur in Ansätzen tatsächlich proportional zur Bevölkerungszahl, woraus sich zwei Besonderheiten ergeben: Erstens braucht man in verschiedenen Wahlkreisen unterschiedlich viele Stimmen, um als Abgeordneter ins Parlament einzuziehen und zweitens werden dünn besiedelte Regionen dabei bevorzugt.

Verteilungsschlüssel bevorzugt dünn besiedelte Provinzen

Ein Beispiel: Die mehrheitlich alevitisch und kurdisch bewohnte Provinz Tunceli im Osten Anatoliens hat eine Einwohnerzahl von 86.500 und stellt zwei Abgeordnete. Ein Abgeordneter repräsentiert also 43.250 Menschen. Die Provinz Bursa, die die gleichnamige Industriemetropole im Westen des Landes beherbergt, entsendet hingegen 18 Abgeordnete bei einer Einwohnerzahl von 2,8 Millionen. Hier repräsentiert ein Abgeordneter also 155.000 Einwohner – mehr als das Dreifache der Zahl eines Abgeordneten aus Tunceli. Die Zahl der Wahlberechtigten geht natürlich mehr oder weniger Hand in Hand mit der Einwohnerzahl, sodass man auch sagen könnte, dass ein Politiker aus Bursa ungefähr dreimal so viele Stimmen bekommen muss, um einen Sitz in der Großen Nationalversammlung zu erhalten, wie ein Politiker aus Tunceli.

Dadurch werden vor allem Wahlkreise mit wenigen Einwohnern gegenüber den Großstädten bevorzugt. Besonders dünn besiedelt ist bekanntermaßen der Osten des Landes und die mehrheitlich kurdisch bewohnten Regionen. Daher hat die HDP mit weniger Gesamtstimmen mehr Abgeordnetenmandate erobern können als die MHP.

Das türkische Wahlsystem hat noch einige andere Nachteile, die einer exakten Wiedergabe des Volkswillens im Wege stehen. So erfolgt die Stimmenauszählung nach dem d’Hondt-Verfahren, das kleinere Parteien gegenüber größeren benachteiligt. Noch größeres politisches Konfliktpotential hat jedoch die umstrittene 10%-Hürde, die höchste Sperrminorität der Welt. Dass die Stimmen aller Parteien, die weniger als 10% erhalten, verfallen, wird seit Jahren als undemokratisch kritisiert. Gefordert wurde vor allem eine Absenkung der Hürde auf 5%. Bei der Parlamentswahl 2002 beispielsweise führte die Sperrklausel dazu, dass die neu gegründete AKP mit einem Wahlergebnis von 34%, also einem guten Drittel der Stimmen, nur knapp an einer Zweidrittelmehrheit der Sitze vorbeigeschrammt ist. Ähnlich dem deutschen könnte also auch das türkische Wahlrecht eine Reform gebrauchen.