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Bildung & Forschung

„Wenn ich mich als Ali aus Deutschland vorstelle, guckt mich keiner skeptisch an“

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Ali Söğüt studiert seit zwei Jahren in London. Der gebürtige Hamburger hat sich nach dem Abitur für ein Studium im Ausland entschieden und ist fortgezogen. Im Interview berichtet er über seine Erfahrungen als Student in England.

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Ali Söğüt studiert seit zwei Jahren in London. Der gebürtige Hamburger hat sich nach dem Abitur für ein Studium im Ausland entschieden und ist fortgezogen. Im Interview berichtet er über seine Erfahrungen als Student in England.
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Ali Söğüt studiert seit zwei Jahren in London. Der gebürtige Hamburger hat sich nach dem Abitur für ein Studium im Ausland entschieden und ist fortgezogen. Seine Heimat trägt der 20-jährige aber noch immer im Herzen und vermisst die „Straßen, Menschen und Brötchen aus Hamburg-Steilshoop.“

Ähnlich wie Ali werden sich rund 450.000 Abiturientinnen und Abiturienten in Deutschland spätestens jetzt die Fragen stellen „Möchte ich studieren? Und wenn ja, was und wo?“ Die Ergebnisse der Abiturprüfungen werden in diesen Tagen bekanntgegeben und die heiße Phase der Bewerbungen für Studienplätze beginnt. Statistisch gesehen bleiben rund 85% der angehenden Studierenden in ihrer Heimatregion. Wie Ali Söğüt entscheiden sich jährlich etwa 30.000 Studienanfänger für ein komplettes Studium im Ausland. Besonders beliebte Ziele sind Österreich, Niederlande und Großbritannien. Wir haben mit Ali über sein Leben in London, seine Heimat Hamburg und seine Motive für ein Auslandsstudium gesprochen…

Du hast vor zwei Jahren als 18-jähriger deine Koffer gepackt und dich für ein Studium in London entschieden. Während viele ja nicht einmal ihre Heimatstadt verlassen, bist du komplett ins Ausland gezogen. Was hat dich zu dieser ungewöhnlichen Entscheidung bewogen?

Ich bin in Hamburg-Steilshoop geboren und dort groß geworden. Im Abiturjahrgang war ich der drittbeste mit einem 1er Schnitt, obwohl ich nach der Grundschule eine Hauptschulempfehlung erhalten hatte. Dass jemand aus Steilshoop studiert, erwartet man normalerweise nicht – schon gar nicht in London. Ich wollte aber definitiv studieren und zwar etwas Soziales oder Gesellschaftliches, weil ich die deutsche Gesellschaft und Politik mitgestalten möchte. So habe ich mich für Internationale Politik entschieden und wollte es in einer internationalen Stadt mit internationalen Studenten studieren. So international wie London ist keine deutsche Stadt, nicht mal Berlin. London ist auch in puncto Events außerhalb des Lehrplans unschlagbar. Hier gibt es täglich Vorträge an den Unis von den bestens Experten der Welt.

Kam ein Studium in Deutschland überhaupt nicht in Frage?

Internationale Politik im Bachelor kann man auch an der TU Dresden und der Jacobs University in Bremen studieren. Diese Städte sind aber nicht so international ist wie London. In meinem Kurs über den Nahost-Konflikt sind beispielsweise sowohl Palästinenser aus dem Gazastreifen als auch Israelis. So verlaufen die Diskussionen viel authentischer, manchmal auch deutlich hitziger als in einem Kurs mit Studenten, die alles nur aus der Theorie kennen. Und außerdem ist die Jacobs eine Privatuni. Da hätte ich genauso viel gezahlt wie jetzt in London an der City University. Ich hatte auch Jura in Berlin im Kopf, habe mich jedoch dagegen entschieden.

Und deine Eltern hatten nichts dagegen, dass in so weit weg ziehst?

Zwei Brüder von mir haben schon in London studiert. Sie waren also daran gewohnt. Und von hier aus bin ich mit dem Flieger in 75 Minuten in Hamburg, so weit ist es also nicht. Meine Eltern haben immer großen Wert auf unsere Bildung gelegt und darauf, dass wir eigenständig werden. Meine Schwester hat Sozialpädagogik studiert und meine Brüder sind Ingenieure. Sie hatten einen Schulabschluss aus der Türkei, deren Anerkennung in Deutschland sie mindestens ein Jahr gekostet hätte, daher sind meine Brüder nach London gegangen. Meine Schwester war in Belgien. Sie hatten es mir also vorgemacht und waren eine große Orientierungshilfe. Es war daher einfacher, den Schritt ins Ausland zu wagen.

Was waren die Herausforderungen, nachdem du dich für London entschieden hattest?

Schon die Bewerbung ist eine Herausforderung für sich. Großbritannien hat eine zentrale Vergabestelle für die Studienplätze, UCAS. Deren Bewerbungsfristen sind im Januar, für Oxford und Cambridge sogar im Oktober des Vorjahres, also deutlich früher als in Deutschland. Das haben viele Abiturienten gar nicht auf dem Radar. Zusätzlich zu den ganzen Formularen verlangen sie ein Motivationsschreiben und meistens zwei Empfehlungsschreiben von Lehrern. Das ist anstrengend, vor allem wenn man es zum ersten Mal im Leben macht. Und wenn man wie ich auch einen Hang zur Prokrastination hat, wird es knapp. Ich habe meine Bewerbung erst 10 Minuten vor Bewerbungsschluss abgeschickt.

Wolltest du dringend raus aus Hamburg und Deutschland oder war es eher die Anziehungskraft Londons?

Ich liebe Hamburg. Hamburg ist meine Heimat und keine andere Stadt zieht mich so sehr an wie Hamburg. Ich wollte aber sehen, was es noch auf der Welt gibt. Auf mich alleine gestellt sein. Ich hätte niemals gelernt zu kochen, wenn meine Mutter in meiner Nähe wäre. Wenn ich jetzt Geld brauche, geh ich arbeiten. Ich wollte selbstständig sein. London finde ich übrigens nicht schöner als Hamburg; ich bevorzuge Steilshoop (lacht).

Du vermisst also Hamburg?

Ja klar. Hamburg ist meine Heimat. In Hamburg bin ich aufgewachsen. Wenn ich in den Ferien in Hamburg bin, merke ich wie sehr ich die Stadt vermisse; die Straßen, die Häuser, die Menschen…

… halt warte, ich lass kurz Emrah im Hintergrund laufen…

… den Bäcker, die Brötchen (lacht). Ich bin aber froh in London zu studieren.

Würdest du es jedem Abiturienten empfehlen in London zu studieren?

Studierende der Politik- oder Wirtschaftswissenschaften sollten die Londoner Luft definitiv mal geschnuppert haben. In diesem Bereich kann ich ein Studium hier echt empfehlen. Aber ich würde nicht jedem raten hierher zu kommen. Für manche Fächer macht es wenig Sinn die hohen Studiengebühren und Lebenskosten hier in Kauf zu nehmen. Wer Architektur, Maschinenbau und ähnliches studieren möchte, ist in Deutschland besser aufgehoben.

London ist ja eines der teuersten Städte der Welt…

Ja, das ist verrückt. Eine Wohnung zu finden ist eine echte Herausforderung. Vielleicht die schwierigste Sache hier überhaupt. Die Mieten sind unglaublich hoch. Ich zahle für ein Zimmer fast soviel wie meine Eltern in Hamburg für die ganze Wohnung. Für das Public Transport-Ticket zahle ich nochmal rund 110 Euro monatlich – als Student wohlgemerkt. Hinzu kommen noch jährliche Studiengebühren von 9.000 Pfund, also rund 12.000 Euro.

Wie finanzierst du das alles?

Man ist auch im Ausland BAföG-berechtigt und erhält oft den Höchstsatz. Hinzu kommt mein Kindergeld. Ab und an gehe ich hier arbeiten und zur Not sind die Eltern da. Für die Gebühren gibt es einen besonderen Studentenkredit. Den zahlt man monatsweise erst dann ab, wenn man im Berufsleben ist und ein bestimmtes Jahreseinkommen hat. Es klingt dramatischer als es ist, aber es gibt sicher angenehmeres als mit 40.000 Euro Schulden die Uni zu verlassen. Wer hier studieren möchte, sollte sich das daher gut überlegen.

Wie ist das Leben in London?

London ist eine echte Großstadt, eine Metropole. Es ist lauter und dreckiger als Hamburg. Hier in London herrscht viel Chaos. Im Englischen würden wir nasty sagen. Das U-Bahn und Straßennetz ist größtenteils von vor dem Zweiten Weltkrieg. In der Hinsicht ist Hamburg sogar moderner. Aber London ist extrem international. Das kulturelle Angebot ist enorm vielfältig, die Museen hier sind beispielsweise kostenlos. London ist eine Welt für sich. Hier ist immer was los. Viele sagen London sei nicht wirklich Großbritannien, weil es ganz eigen ist. Echte Londoner gibt es nicht, doch gleichzeitig sind alle echte Londoner. Das äußere Erscheinungsbild spielt keine Rolle.

„Heimat ist dort, wo man sich nicht erklären muss“, sagte der deutsche Dichter Johann Gottfried Herder…

Ja genau. Man lernt hier viele neue Leute und Kulturen kennen und wird so aufgenommen wie man ist. Ich habe mich hier sofort heimisch gefühlt. Wenn ich mich als Ali aus Deutschland vorgestellt habe, hat mich keiner skeptisch angeguckt und mich darauf hingewiesen, dass ich ja nicht wirklich deutsch aussehe. Niemand! Obwohl ich oft darauf gewartet habe.

Da könnten sich die Menschen hier eine Scheibe von den Briten abschneiden…

Auf jeden Fall. In Deutschland habe ich immer das Gefühl mich für meine muslimische Identität rechtfertigen zu müssen. Viele in Deutschland verstehen unter Integration noch immer Assimilation. Hier wird in den Unis helal-zertifiziertes Fleisch angeboten. Das ist absolut selbstverständlich und gefährdet keineswegs eine vermeintliche Leitkultur. Daher fühlen sich alle hier British. Es kann auch daran liegen, dass die britische Identität aufgrund des Commonwealth schon seit je her eine multiethnische ist. In den Medien hier gibt es diese Scheindebatten über Integration, Loyalitätskonflikte und Parallelgesellschaften einfach nicht. In Deutschland wird ja so häufig über Integration geredet, dass man sich nur aufgrund dessen fremd fühlt. Davon sollten wir uns wirklich eine Scheibe abschneiden.