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Gesellschaft

Wer gilt in der Türkei eigentlich als Türke?

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Ein neues Online-Abstammungsregister sorgt in der Türkei für Aufsehen:. Während die einen nachweisen wollen, dass sie „echte“ Türken sind, loten die anderen ihre Chancen auf eine EU-Staatsbürgerschaft aus.

Ümüt B. freut sich über das Ahnenregister, das seit kurzem online ist und Familienstammbäume in der Türkei öffentlich einsehbar macht. „Es hieß immer, meine Urgroßmutter stamme aus Bulgarien“, sagt er. „Jetzt haben wir die offizielle Bestätigung.“ B., der seinen vollen Namen nicht nennen will, hofft nun, von der bulgarischen Regierung einen zweiten Pass zu erhalten – und damit womöglich bald ein Visum für den Schengenraum.

So wie B. geht es zurzeit vielen Türken. Seit 8. Februar ist das Ahnenregister im Netz frei zugänglich. Die Aufzeichnungen reichen zum Teil bis ins 19. Jahrhundert zurück, noch in die Zeit des Osmanischen Reiches. Jeder Türke kann seinen Familienstammbaum einsehen. Die Nachfrage war derart groß, dass die Website nach ihrem Start überlastet war und für einige Tage wieder offline genommen wurde. Kurz darauf folgt ein Relaunch.

Mehr als acht Millionen Türken haben den kostenlosen Service bislang genutzt und sich mit Ahnenforschung befasst. Wie B. sehen darin nicht wenige die Chance auf einen Zweitpass und damit einhergehende Vorteile. Vor allem die Generalkonsulate und Botschaften der Balkanländer erwarten für die kommenden Wochen eine Anfragewelle von Türken, die ihre Chancen auf eine zweite Staatsbürgerschaft ausloten wollen.

Kritiker warnen unterdessen vor den Problemen, zu denen das öffentliche Register führen könne. So schrieb die Zeitung „Cumhuriyet“: „Stellen Sie sich vor, Sie denken, Sie seien Vollblut-Türke – und dann finden Sie heraus, dass Sie Armenier sind.“ Andere befürchten Übergriffe nationalistischer Türken und Diskriminierung von Armenisch- oder Griechischstämmigen in der Türkei.

Dass das Thema hochsensibel ist, zeigt auch der Fall des 2007 ermordeten Journalisten Hrant Dink. Dink, selbst armenischer Abstammung, sorgte 2004 mit einem Artikel für Aufruhr, der nahelegte, dass Sabiha Gökcen (1913-2001), Adoptivtochter von Staatsgründer Kemal Atatürk, armenischer Abstammung gewesen sei.

Das Magazin „Agos“, für das auch Dink schrieb, berichtete 2013, dass die Regierung heimlich mit Zahlencodes notiere, wer jüdischer, griechischer oder armenischer Abstammung sei. Viele waren darüber schockiert – in erster Linie, weil sie fürchteten, die Informationen könnten gegen sie verwandt werden. Denn immer wieder in der Geschichte der Türkei kam es zu Anschlägen und Pogromen gegen Minderheiten. Das Ahnenregister zeigt aber auch, dass die Frage, wer Türke ist, längst nicht so klar ist, wie es sich manche Nationalisten wünschen.

Viele Kinder, deren Eltern während des Genozids an den Armeniern 1915 ums Leben kamen, wurden von türkischen Familien adoptiert. Andere traten zum Islam über und verheimlichten ihre Herkunft. Mit der Gründung der Republik 1923 konnte sich jeder auf dem Staatsgebiet Lebende zur türkischen Staatsbürgerschaft bekennen. Indem man alle in der Türkei Lebenden zu Türken erklärte, hoffte man, sich aller Minderheitenkonflikte entledigen zu können.

Tatsächlich ist die Türkei de facto ein Vielvölkerstaat. Im Osmanischen Reich waren die Türken die Titularnation – doch auf dem Staatsgebiet der heutigen Türkei lebten Griechen, Juden, Kurden, Armenier, Aramäer, Georgier, Araber und andere Ethnien. Nach den Balkankriegen, dem Ersten Weltkrieg und den darauffolgenden ethnischen Säuberungen kamen Albaner, Serben, Bulgaren, Bosnier hinzu. Dagegen verließen fast alle Griechen nach einem Pogrom 1955 das Land.

Nur Juden, Griechen und Armenier genießen in der heutigen Türkei Minderheitenrechte. Die mit etwa 15 Prozent der Gesamtbevölkerung größte Minderheit, die Kurden, sind nicht als solche anerkannt. Ihre Sprache war jahrzehntelang verboten, ihre Existenz wurde geleugnet. Erst unter der Regierung Erdogan entspannte sich das Verhältnis. Seit dem Ende des Friedensprozesses 2015 hat es sich wieder eingetrübt.

Warum die Genealogie-Website ausgerechnet jetzt online ging, ist unklar. Kritiker halten den Zeitpunkt für denkbar ungünstig, da das Klima im Land nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom Juli 2016 „paranoid“ geworden sei. Andere vermuten hinter der Veröffentlichung einen Versuch, in unruhiger Zeit an die patriotischen Gefühle der Türken zu appellieren.

KNA/mit/api/brg