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Kolumnen

„Wer hat die Deutschen zu Lehrmeistern Europas gemacht?“

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Bis zum letzten Sommer war die Welt in Ordnung. Viele Neubürger, die in den letzten 50 Jahren nach Deutschland kamen, glaubten dieses Land zu kennen – mich eingeschlossen. Ich kam als Kind von Flüchtlingen über Dänemark nach Deutschland. Meine Familie hatte wegen Hitlers Krieg ihre ostpreußische Heimat verloren, mein Geburtsort liegt im heutigen Russland. Dann kam die Öffnung der Grenzen, hunderttausende von Menschen strömten in dieses Land, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel es so wollte.

Vieles wird sich dadurch in Deutschland verändern, und wenn mein Eindruck nicht täuscht, fragen sich vor allem diejenigen, die sich in den letzten 20 Jahren für Deutschland entschieden haben, was aus dem Land werden wird. Und sie fragen auch – wie nahezu alle – warum Merkel die Grenzen geöffnet hat und warum diese „Willkommenskultur“ einsetzte, die es weder für die eigenen Landsleute 1945 gab, die vom Osten nach Westen flohen noch für die Gastarbeiter, die vor einem halben Jahrhundert aus Anatolien hierher kamen. Was ist mit den Deutschen passiert, warum ticken Angela Merkel und viele ehrenamtliche Helfer so? Warum glauben sie die Welt retten zu können, obwohl auch die Möglichkeiten der mächtigen Wirtschaftsnation Bundesrepublik begrenzt sind?

Wenn man die deutsche Geschichte kennt und sich diverse Begebenheiten vor Augen führt, merkt man rasch, dass in deutschen Köpfen die Vorstellung herumgeistert, vor allem kulturell dem Rest der Welt überlegen zu sein, „es besser zu wissen als andere“ und damit das Recht zu haben, die eigenen Vorstellungen auf die gesamte Welt zu übertragen. Schon im 12. Jahrhundert mokierte sich ein englischer Theologe über uns und sagte: „Wer hat die Deutschen zu Lehrmeistern Europas gemacht?“. Die damaligen deutschen Könige zogen nach Rom, ließen sich dort zum Kaiser krönen und erhoben zumindest symbolisch den Anspruch, Europa zu repräsentieren. Als im 19. Jahrhundert die Gründung des deutschen Reiches kurz bevorstand, verfasste der Dichter Emanuel Geibel das Gedicht „Deutschlands Beruf“. In einem der Verse heißt es: „Und es mag am deutschen Wesen/ Einmal noch die Welt genesen“. Die deutschen Politiker haben diese Zeile im September 2015 zwar nicht zitiert, aber sie haben eine zeitlang so gehandelt. Der frühere französische Präsident Sarkozy wird mit der Bemerkung wiedergegeben, dass sich die Deutschen „nicht geändert“ hätten. Der Rest Europas ist aber bis zum heutigen Tag dem deutschen Ansinnen, alle mögen sich in der Flüchtlingsfrage bitte so verhalten wie es die Deutschen tun, nicht gefolgt.

Das Land selbst ist entsetzt über den Kurs, den die Bundeskanzlerin versuchte, einzuschlagen. Alle Wahlergebnisse zeigen dies an, es hat daher keinen Sinn, die AfD zu verteufeln. Sie ist – zumindest in dieser Größenordnung – eine Folge der Merkel‘ schen Flüchtlingspolitik. Das Wahlergebnis im benachbarten Österreich, wo nun im zweiten Wahlgang über den Präsidenten des Landes entschieden wird, zeigt an, dass keine Beruhigung der Lage eingetreten ist. Es sind daher weitere Protestwahlen zu erwarten, auch in Deutschland. Sie werden, so meine Hoffnung, Zug um Zug dazu führen, dass bei den etablierten Parteien die Einsicht einzieht, dass man das Land nicht überfordern darf, und vor allem – dass Deutschland in der Flüchtlingsfrage im Einklang mit seinen Partnern handelt. Dazu gehört auch die schwierige Beziehung zur Türkei, der die Pressefreiheit nicht geopfert werden darf. Was Satire ist und was nicht, ist dabei ein anderes Thema. Aber es darf sich nicht fortsetzen, dass die Bundesregierung zu klaren Verletzungen der Pressefreiheit schweigt. Sie muss im Verbund der Europäer in der Lage sein, jederzeit zu reagieren.

Deutschland hat im zurückliegenden Halbjahr die Erfahrung gemacht, dass es in dieser Form als Führungsmacht Europas nicht akzeptiert wird. Viele sind davon überrascht, weil sie glauben, dass die deutsche Politik das Richtige im Sinn hat, aber theoretisch Richtiges oder vermeintlich Sinnvolles hat den Praxistest zu bestehen. Das gilt für die Flüchtlingspolitik genauso wie für die Stabilitätspolitik oder für den Job, den wir in der Flüchtlingsfrage nun von der Türkei und von Griechenland erwarten.   Gelegentlich sind wir uns eben ein Rätsel.