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„Wer in der Türkei Christ ist, zahlt einen Preis“
„Die Türkei verfolgt religiöse Minderheiten!“ Diese Ansicht hält sich hartnäckig in den Köpfen vieler Menschen und taucht auch in der Politik immer wieder auf. Die Evangelische Akademie Hofgeismar kam 2008 zu einem anderen Schluss. (Foto: rtr)
Die Beziehung zwischen vielen Europäern und Türken leidet unter anderem am sehr kurzen historischen Gedächtnis der Beteiligten. Darin hat meist nur das erlittene Leid der einem selbst vermeintlich oder tatsächlich Nahestehenden einen Platz. Wer jedoch der Geschichte von mehreren tausend Jahren Raum in sich geben kann, bekommt – so lautete nicht zuletzt eine Erkenntnis der Tagung in der Evangelischen Akademie Hofgeismar, deren Teilnehmer im Folgenden zitiert werden – eine völlig andere Perspektive. Er realisiert jenseits der Konflikte des 20. Jahrhunderts auf dem Boden der heutigen Türkei auch großartige kulturelle und religiöse Blütephasen, die dazu beitrugen, Europa zu dem werden zu lassen, was es heute ist.
Anatolien: Eine Wiege der Hochkulturen
Die heutige Türkei, im europäischen Bewusstsein der Restbestand eines muslimischen Imperiums, versteht sich auch als eine Wiege vieler Hochkulturen, wie zum Beispiel jener der Hethiter in der Mitte des 3. Jahrtausends vor Christus. Hochwertige Bewässerungsanlagen, Viehzucht, fortschrittliche Methoden der Metallverarbeitung und Hieroglyphen waren auf anatolischem Boden alltägliche Realität, lange bevor auf europäischem Boden an Schreiben, Rechnen, an Kunst, Diplomatie und aufgeklärte Staatsführung überhaupt gedacht werden konnte. Bekanntlich liegen ja auch Troja und Pergamon auf türkischem Boden. Wer zum Beispiel die großen historischen Museen Istanbuls und Ankaras besucht, findet dort diese Botschaft deutlich wieder: Die Kulturen auf dem Boden der heutigen Türkei sind die, die Europas Kultur erst möglich machten und ihr lange voraus gingen.
Und auch an eine weitere Tatsache denken nicht viel mehr Christen als Muslime: Hier liegt die Wiege der christlichen Kirche. Wer das Grab Marias und wichtige Orte des Wirkens von Paulus besuchen will, wer sieht, wo die ersten, die entscheidenden Konzile der Christenheit (das erste in Nicäa und dann, bis auf das dritte, alle der folgenden sieben Konzile auf dem Boden des heutigen Istanbul) stattfanden, befindet sich fast immer auf dem Boden der heutigen Türkei. Kappadokien, die Region um Kayseri, die Hochburg der heutigen Regierungspartei AKP, war noch im dritten Jahrhundert eine der bedeutendsten christlichen Regionen der Welt.
Wer also weit genug zurück blickt, sieht auch auf ein mannigfaltiges, ja teils widersprüchliches kirchliches Leben. Er sieht auf eine heute wie damals zerstrittene Christenheit. So stellte sich die Machtergreifung durch die Muslime im achten Jahrhundert für die syrisch-orthodoxe Kirche wie eine Befreiung von der Unterordnung unter Byzanz durchaus als positiv dar. Die Gemeinden erlebten noch im 12./13. Jahrhundert eine Blütezeit, deren Ende erst im 14. Jahrhundert durch den Ansturm der Mongolen herbeigeführt wurde, so der Erlanger Orientalist und Privatdozent Dr. Shabo Talay.
Das Osmanische Reich war multireligiös
Und wer ins letzte Jahrhundert des Osmanischen Reiches zurückgeht, kann dieses mit gutem Grund auch als ein Vielvölkerreich und ein multireligiöses Reich bezeichnen. Die Sultane hatten noch viele Millionen Christen als Untertanen allein auf dem Boden der heutigen Türkei. Unter dem Millet-System waren diese Minderheiten staatlich geschützt und mit erheblichen Rechten der Selbstverwaltung ausgerüstet. Sie waren andererseits allerdings auch durch viele Pflichten eingeschränkt: Als Zahlung einer Sondersteuer herangezogene Bevölkerungsgruppe waren sie eine wichtige, ja eine tragende Säule des osmanischen Verwaltungssystems. Unterordnung ja, aber auch Rechtsschutz, führt Prof. Talay aus und meint, so gesehen, ganz formal, hätten Christen unter den Osmanen mehr Rechte gehabt als heute.
Im Rahmen des Millet-Systems (der Anerkennung und Unterordnung) konnte die Katholische Kirche seit dem 16. Jahrhundert zudem großen Einfluss auf den Sultan nehmen. Immerhin waren verschiedene christliche Nationen historische Verbündete des Osmanischen Reiches gegen andere europäische Mächte. Ihr Einfluss wurde in Istanbul am Hof des Sultans vor allem über die dortigen Vertretungen der Regierungen Frankreichs, später auch Italiens und Großbritanniens ausgeübt. Und der französische oder italienische Konsul, die diesen Einfluss ausübten, waren keine Einheimischen, sondern Fremde, Diplomaten, mit Sonderrechten, so Talay. Gleichzeitig sei die Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine Zeit intensiven Kirchenbaus gewesen. Diese Phase der Bemühung um eine Modernisierung des Osmanischen Reiches von Oben steht also auch im Zeichen der Erstarkung christlichen Einflusses. Doch schon in der Zeit ab 1895 waren erste Übergriffe auf Christen mit vielen Toten zu verzeichnen gewesen – mindestens 100.000 im Südosten der Türkei, wie Dr. Talay aufzeigt. Diese Entwicklung erlebte 1915 ihren traurigen Höhepunkt.
Weitere Zusammenstöße und darauf folgende Flüchtlingswellen von Christen aus der in der Zwischenzeit entstandenen Türkischen Republik sind vor allem aus den Jahren 1923, 1955, 1965 und 1974 zu melden. All dies (1923: Militärische Intervention der Alliierten Großbritannien, Frankreich, Italien und Griechenland, um große Teile der Türkei unter sich aufzuteilen; 1955 Zypern-Krise; 1965, 1974 erneute Krise um Zypern) sind Jahre, in denen durch ausländische Mächte die nationale Existenz der Türkei bedroht war oder zumindest das regionale Gleichgewicht zwischen Griechen und Türken im östlichen Mittelmeerraum.
Beiderseitige Tragödie?
In Hofgeismar war es vor allem der seit vielen Jahren in der Türkei lebende und von dort für die „Berliner Zeitung“ arbeitende Journalist Günter Seufert, der dafür warb, diese historische Erfahrung und Angst vieler Türken wahr und ernst zu nehmen: „Man erinnert sich in der Türkei noch heute an die Situation, als westliche, somit christlich geprägte Großmächte Europas, wie Frankreich und Großbritannien, 1923 die Türkei besetzen und unter sich aufteilen wollten.” Dies zu verhindern war nur durch heftigen militärischen Widerstand möglich. „Damals wie heute ist es für viele Türken schwierig, in der Türkei lebende Christen als etwas ganz anderes als den Vorposten derer zu sehen, die sich die Reste des Osmanischen Reichs einverleiben wollten. Da der türkische Nationalstaat sich aus dem anatolischen Rest des früher riesigen Osmanischen Reichs unter Vertreibung der europäischen Besatzer gebildet hat, ist er quasi in Abgrenzung zu Europa entstanden, während er unter Republikgründer Kemal Pascha Atatürk gleichzeitig nach Innen eine technisch-wirtschaftlich-politische Reformpolitik nach europäischem Muster startete.”
Dies in der ausländischen Kritik an der Lage der Christen nicht zu berücksichtigen, sieht Seufert als eine grobe Missachtung türkischer historisch begründeter Ängste an. Gleichzeitig, so Seufert, gäbe es in der Türkei kein Bewusstsein für die eigene historische Verantwortung. So sagt er mit Blick auf die Armenier: „Die historische Aufarbeitung hat doch gerade erst begonnen. Die Bevölkerung trifft dies völlig unvorbereitet”.
Das Bild des Christentums ist insofern aus türkisch-nationaler Sicht ein durchaus belastetes. Doch auch dem Islam hatte der Gründer der Türkei, Atatürk, in der jungen Republik nur eine untergeordnete Rolle zugesprochen. Laut Atatürk hätte die Unfähigkeit des Islam, sich zu modernisieren, ja seine Erstarrung, direkt in die Krise geführt. Religion stehe in dem Sinne im Widerspruch zum Interesse der neu geschaffenen Nation, und ihre Unterordnung unter Letztere wurde ein fundamentaler Bestandteil der neuen nationalistischen Staatsideologie im Sinne der Aussage Auguste Comptes: „Nur Wissenschaft zählt, nicht Metaphysik”.
Staatliche Gängelung der Religion
Da die Religion sich aber als nicht ausrottbar erwies, schwenkte die kemalistische Republik auf die realistischere Methode um, sie staatlich zu lenken, also einen Laizismus unter staatlicher Aufsicht einzuführen. Der Islam sollte Privatsache werden. Eine kemalistische Bürokratie übernahm die Aufgaben der Imame, welche seitdem vom Staat bezahlt werden. Der sunnitische Islam wurde türkisiert und nationalisiert. Und doch erwies der Islam sich über die Jahrzehnte als ein wesentlicher Kitt für das innere Gleichgewicht und den Zusammenhalt der türkischen Gesellschaft, so Professor Gazer von der Universität Erlangen. „Ein Türke ist ein sunnitischer Muslim” ist somit zum nationalen Glaubenssatz geworden, der der Religion in der angeblich laizistischen Türkei am Ende doch die Funktion einer „conditio sine qua non” einräumte.
Wie Professor Karl Pingerra, Theologe an der Universität Marburg, ausführt, spielen manche türkische Medien bei dieser Ausgrenzung eine besonders bedenkliche Rolle, indem sie relativ schnell christliche Vertreter in den Ruch des „Hochverrats” bringen. Dies geschah zum Beispiel dem syrisch-orthodoxen Metropoliten Yusuf Cirek, der diese Vorwürfe mit dem Satz kommentierte: „Wer in der Türkei Christ ist, zahlt einen Preis”. Auch der schon fast sprichwörtliche volkstümlich-aggressive Satz „Entweder Du liebst die Türkei, oder du gehst!” unterstreicht den radikalen Anspruch, jede Vielfalt auszumerzen.
Dieser Kitt des Nationalstaates widerspricht natürlich dessen eigener offizieller Logik, über den Religionen und Ethnien zu stehen. Gegenüber dem Christentum wurde das Bestreben nach Marginalisierung des Religiösen allerdings über Jahrzehnte systematisch verfolgt. Zwar waren die armenischen, griechisch-orthodoxen und jüdische Kirchen 1923 im Lausanner Vertrag auch von der türkischen Regierung als religiöse Institutionen anerkannt worden, doch hat ihnen dies faktisch nicht viel geholfen. Seitdem sie als juristische Personen anerkannt sind, haben sie allerdings die Möglichkeit, so Dr. Grulich, zumindest mit ihren Klagen vor Gericht Gehör zu finden. Den christlichen Denominationen bleibt allerdings nach wie vor nur der Weg, über Stiftungen aufzutreten.
Verschwörungstheorien fanden Eingang ins Verwaltungshandeln
Seit der Schließung aller religiösen Ausbildungsinstitutionen nach dem Militärputsch von 1971 sind die christlichen Kirchen in einer noch schwierigen Situation, besonders betroffen ist dabei das Patriarchat – Können doch der Patriarch, wie auch die orthodoxen Priester, eigentlich nur aus einer Schule kommen und zwar der (eben 1971 geschlossenen) in Chalki, weil christliche Priester in der Türkei auch türkische Staatsbürger sein müssen, um arbeiten zu können.
Aber könnte nicht ein Priester im Ausland ausgebildet werden und danach in die Türkei zurückkehren? Das praktische Gegenbeispiel liefert der Fall des Referenten Dr. Hacik Gazer. Er war genau mit diesem Plan nach Deutschland gegangen: Er wollte hier Theologie studieren und dann in die Türkei zurückzukehren. Aber: „Mir wurde plötzlich einfach der türkische Pass aberkannt. In der Türkei wurden mir hanebüchene Verschwörungsvorwürfe angehängt. Das war es.” Er blieb in Deutschland.
Andererseits hat der türkische Staat den Kirchen in den letzten Jahren angeboten, ihre angehenden Priester in türkische staatliche theologische Institutionen zu schicken. Die Armenier haben dieses Angebot, das erstmals unter Ecevit kam, angenommen. Andere kirchliche Denominationen sehen ihre Interessen mit diesem Modell nicht gewahrt.
Der Sprecher des Patriarchats, Pater Dositheos Anağnostopulos, beschreibt die täglichen Probleme der Kirchen: Die Situation sei komplex und widersprüchlich. Obwohl griechisch-orthodoxe Schulen eigentlich geschlossen seien, gäbe es real durchaus welche, und dies auch im zentralen Kloster der Kirche, obwohl die dortige Schule offiziell vor 15 Jahren geschlossen worden ist. Nach Angaben von Dr. Rudolf Grulich sind es sogar 14 Schulen, darunter 4 Gymnasien. Allerdings gäbe es für diese keinerlei Rechtssicherheit, sondern ihre Existenz basiere auf dem wohlwollenden Verhalten der lokalen türkischen bzw. muslimischen Verwaltung. Die Unterhaltung dieser Institutionen sei demnach als Privatinitiative zu verstehen. Allerdings lasse sich dafür heute unter Hinweis auf die EU besser eintreten als früher, wenn auch nicht durch das Einklagen von Religionsfreiheit, sondern von Menschenrechten. Die Menschen hätten auch Angst, ihr Recht einzuklagen, denn was nutze es, vor Gericht Recht zu bekommen und danach vor der Tür von einem Fanatiker niedergeschossen zu werden, wie es ja schon geschehen sei. Und trotz aller Verbote, so Professor Gazer, hätten heute allein die Armenier 17 kirchliche Schulen, einen Verlag und Tageszeitungen – aber keinen Rechtstatus.
Kooperationen auf Universitätsebene
Einen ganz anderen nach vorne weisenden Ansatz stellt Prof. Dr. Martin Tamcke, der Dekan des theologischen Fachbereichs der Universität Göttingen, vor. Er sprach in Hofgeismar über seine persönlichen, schwierigen und doch ermutigenden Erfahrungen mit theologischen Fachbereichen in der Türkei. Er war bereits mehrere Male als Gastprofessor in der Türkei: zweimal in Istanbul, zweimal in Kayseri, einmal in Sakarya und einmal in Kahramanmaraş. Sein Fachbereich unterhält Partnerschaften mit den Universitäten Istanbul, Ankara, Sakarya, Kahramanmaraş und Kayseri. Diese ersten Kooperationen zwischen einem deutschen und verschiedenen türkischen Fachbereichen der Theologie werden vor allem auf der Ebene des Austauschs von Doktoranden praktisch umgesetzt. Von diesen sagt Prof. Tamcke: „Diese Austauschstudenten haben hier in Göttingen intensiv studiert. Alle bisher eingereisten Doktoranden waren profilierte Leute und Ausnahmeerscheinungen”.
In den eigenen Vorlesungen erlebte Prof. Tamcke immer wieder konfrontative Situationen. Wiederholt suchten Studenten die argumentative Konfrontation mit dem vermeintlichen Vertreter des christlichen Westens an ihrer Universität. Diese „verbale Gewalt” gegen ihn, die deutsche Besucher der Vorlesungen schockiert habe, sieht Professor Tamcke durchaus gelassen und meint: „Dem muss man sich stellen können.” Er suchte und fand den Diskurs, auch wenn bei diesem von manchen Studenten ausdrücklich „das Trennende” betont wurde. Er erlebte auf der anderen Seite auch viele Momente des Aufeinander Zugehens: „Keiner der türkischen Studenten war zuvor jemals in einer Kirche gewesen, der Gottesdienst, das Orgelspiel, die Andacht waren ihnen fremd. Es war bewegend für mich und es macht mich stolz, wenn die Studenten auch weiterhin Interesse daran zeigen, sich über andere Religionen zu informieren.” Dr. Tamcke bewertete seinen Aufenthalt abschließend im Kern als konstruktiv und ermutigend.
Den Konflikt „Säkulare versus Islam” sieht er an den türkischen Universitäten als „Schnee von gestern” an. Selbst viele Professoren sagten heute, sie müssten zurück zu ihren Wurzeln, und dies sagten erst recht viele Studenten. Auch die Person Atatürks werde da neu definiert. Dieser würde jetzt zum bekennenden Muslim umgedeutet. Prof. Tamcke: „Die Türkei wird islamischer, aber nicht unbedingt islamistischer.”
Passt die Türkei nach Europa?
Die Bemühungen der politischen Spitze zu einer Verbesserung der Lage der Christen im Land gehen mindestens bis in das Jahr 2001 zurück, also auf die Zeit vor der AKP. Der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit lud die assyrischen Aramäer ein, in ihre Wohngebiete zurückzukehren, die sie erst Mitte der 80er-Jahre zu Zehntausenden infolge des Krieges zwischen PKK und türkischer Armee verlassen hatten. Hunderte kamen, waren aber im Einzelfall auch schnell wieder Repressalien ausgesetzt. Hier, im Südosten der Türkei, sind mittlerweile bereits wieder mehrere Kirchen renoviert, andere neu gebaut worden. Die berühmte Aktamar-Kirche am Van-See, die mit massiver staatlicher Hilfe renoviert wurde, hat allerdings jetzt als Museum, nicht als Kirche, wiedereröffnet.
Doch werden solch zarte Bemühungen, die Lage der Christen zu normalisieren, nicht selten der im türkischen Kontext ja viel bedeutsameren Auseinandersetzung zwischen Laizisten und überzeugten Muslimen untergeordnet. Dr. Ergun Yıldırım von der Universität Dumlupınar stellt hierzu fest: „Manche Regelungen, welche die Lage der Christen verbessern würden, haben ja das Parlament passiert, sind aber von dem ehemaligen laizistischen Staatspräsident Sezer nie unterschrieben worden. AKP und Erdoğan wollten sich öffnen, eine offenere kulturelle Identität ermutigen, den Minderheiten Plattformen geben.” Dabei müsse die Regierung jedoch ihr Gesicht wahren und in Bezug auf Armenier und Kurden auch den Nationalisten bisweilen Zugeständnisse machen.
Positiv hervorgehoben wurde das Engagement, das Ministerpräsident Erdoğan und der damalige Außenminister Unterstützung Gül zeigten, um den Armenier-Kongress im Jahre 2005 zustande kommen zu lassen. Neu und positiv fiel auch auf, dass AKP-Vertreter nach der Ermordung Hrant Dinks dessen Familie kondolierten und um Entschuldigung baten. Seit jüngster Zeit liegt eine Genehmigung zur Widereröffnung der Theologischen Hochschule vor und dafür, Lehrer ins Land zu bringen. Wie Günter Seufert und Prof. Tamcke sieht auch Pfarrer Hans-Martin Gloel (Nürnberg, Die Brücke) die Veränderungen der letzten Jahre für die Christen als signifikant an: „Seit 5 Jahren gibt es mehr im Wandel als in 80 Jahren zuvor.“
Reform der Diyanet
Die neue Situation sei zu einem großen Teil auch durch den zwischenzeitigen Religionsminister in der Regierung Erdoğan, Mehmet Aydın, symbolisiert gewesen, der immer wieder gesagt habe, dass die „Grundwerte der Demokratie auch theologisch begründet sein müssen”, also, dass Islam und Demokratie sich nicht widersprächen. Er habe eine institutionelle Trennung von Religion und Staat angestrebt. So stelle sich die Frage, ob die Kontrolle der muslimischen Institutionen nicht bald zu Ende gehen wird und dem Präsidium für Religiöse Angelegenheiten eine zivilere Form gegeben werden würde, mit wesentlich weniger Möglichkeiten der Einflussnahme. Auch die aktuelle Debatte um eine neue türkische Verfassung gehe in die Richtung, Staat und Religion stärker voneinander zu trennen und somit werde die Macht auch in die Hände von Zivilisten übergehen.
Wie geht es den Christen also heute in der Türkei? Das Bild ist widersprüchlich. Nur wenige Fakten erfreuen sich allgemeiner Anerkennung. Prof. Gazer zufolge sind weiter nur Botschaftsprediger erlaubt, wie der deutsche Pfarrer Nollmann. Andere, wie Pfarrer Glöl, sagen, es gäbe jetzt auch Arbeitserlaubnisse als Priester, nicht nur als Botschaftsprediger. Während auf der Tagung in Hofgeismar von der Renovierung historischer Kirchen und von Neubauten auch außerhalb christlicher Urlaubsgebiete gesprochen wurde, bezweifelte der Projektkoordinator der Türkischen Bibelgesellschaft, Behnan Konutgan, dem Autor gegenüber noch vor wenigen Monaten in Istanbul derartig fundamentale Veränderungen. Mitte Januar 2008 führte ich dazu ein Interview mit einem der besten Kenner der Lage der Christen in der Türkei. Hoffen wir, dass die Situation sich weiter entspannt und ein friedliches Miteinander der Religionen mehr und mehr zum Alltag wird.
Weitere Hoffnung macht auch eine Entscheidung des türkischen Parlaments vom 20. Februar 2008. Mit 242 gegen 72 Stimmen beschloss es das 1974 enteignete Eigentum von Stiftungen, die etwa von christlichen oder jüdischen Organisationen betrieben wurden, darunter Kirchen, Schulen oder Waisenhäuser an die Eigentümer zurückzugeben. Mit der Rückgabe des beschlagnahmten Eigentums, so die Erklärung, erfüllt die Türkei eine der Forderungen der Europäischen Union für eine Aufnahme in die EU.
Dieser Artikel erschien 2008 in der Zeitschrift „Zukunft”.