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Gesellschaft

Wie nah Ruhm und Schmach in der Türkei beieinander liegen können…

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Die Türkei hat in den letzten Tagen erneut eine große Chance verpasst. Der Anschlag von Ankara hätte die Gräben zwischen den Lagern zuschütten können, doch stattdessen wird er genutzt, um sie noch größer zu machen.

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KOMMENTAR Der gestrige Abend hat mit großen Kontrasten aufgewartet: Sportlich war er für die Türkei ein großer Triumph – menschlich war er entsetzlich. Die türkische Nationalmannschaft hat es in letzter Minute geschafft, sich als bester Gruppendritter für die Fußball-EM zu qualifizieren und in der Türkei, die noch fußballbegeisterter ist als Deutschland, einen absolut verdienten Freudentaumel ausgelöst. Glückwunsch! Und noch wichtiger: Viel Erfolg nächstes Jahr in Frankreich!

In meinem Kopf wird jedoch weniger das Spiel selbst, als vielmehr die Ereignisse während der Schweigeminute vor dem Anpfiff hängen bleiben. Es sollte eine öffentliche – und angesichts des Fußballspiels internationale – Bekundung der Trauer und des Mitgefühls für die rund 100 Menschen werden, die am Samstag in Ankara ihr Leben verloren haben. Die in die Luft gesprengt und zerfetzt wurden, weil der türkische Staat entweder nicht fähig oder nicht willens war, einen derart fatalen Anschlag im Zentrum der Hauptstadt, auf dem Vorplatz des Ankaraner Hauptbahnhofs, zu verhindern. Genau, wir reden von jenem Staat, der zuletzt in der Lage war, Leute aufzutreiben und zu verhaften, weil sie in Tweets den Staatspräsidenten kritisch erwähnten.

Dabei haben die Sicherheitskräfte angeblich alles richtig gemacht, wie Innenminister Selami Altınok in einer Pressekonferenz kurz nach dem Anschlag Glauben machen wollte. Jene Sicherheitskräfte, die ansonsten bei regierungskritischen Demonstrationen die Teilnehmer umstellen und ihrer Autorität mit Tränengas und Knüppeln Ausdruck verleihen. Am Anschlagsort waren sie zur Zeit des Attentats merkwürdigerweise nicht anwesend, sie kamen gar erst Minuten nach der Explosion zum Tatort und beschossen Augenzeugenberichten zufolge die Überlebenden mit Tränengas. Gleiches ereignete sich in den Tagen danach, als Polizisten Passanten auseinandertrieben, die vor dem Hauptbahnhof Blumen als Zeichen ihrer Trauer niederlegen wollten.

Unwürdiges Verhalten in der AKP-Hochburg

Und nun also die Schweigeminute vor dem so wichtigen Island-Spiel in Konya. Die Stadt gilt als die Hochburg der AKP. Bei den Wahlen im Juni hat die Regierungspartei hier 65,4 % der Stimmen erhalten, weitere 16,4 % gingen an die MHP. AKP und MHP waren hier die einzigen Parteien, die die 10%-Hürde überschritten. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass sich während der Schweigeminute tausende, dem Klang nach zu urteilen vielleicht zehntausende Stadionbesucher berechtigt fühlten, einen Akt der Kondolenz durch ein Pfeifkonzert und Buhrufe zu entwürdigen.

 

Selbst wenn an der von nationalistischen Türken kolportierten Theorie etwas dran wäre, wonach die Terrororganisation PKK für den Anschlag auf „ihre eigenen Leute“ (und selbst das ist gegenüber den meisten Teilnehmern eine unbelegte Verleumdung) verantwortlich sei; selbst wenn es sich wider der Logik als wahr erweisen sollte; die Menschen, die dort ihre überwiegend jungen Leben lassen mussten, sind unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung und der Urheberschaft dieses feigen und würdelosen Angriffs erst einmal nur eins: Opfer.

Während Nationaltrainer Fatih Terim mit seinen emotionalen Worten nach dem Spiel den richtigen Ton in dieser für das Land ambivalenten Situation getroffen hat, waren die  Provokateure auf den Rängen nicht willens, wenigstens nach außen den mindesten Anstand zu wahren. Wie sie ihre Nation in den Augen der Welt dastehen lassen, wenn sie den Eindruck vermitteln, die Türkenkönnten nicht einmal die Würde einer Schweigeminute wahren, darüber denken sie anscheinend nicht nach oder es ist ihnen egal.

Ich erinnere mich zurück an die bitteren Tage Anfang des Jahres, als allein in der französischen Hauptstadt über 1 Million Menschen auf die Straße gingen, um ihrer Trauer über den schwersten Terroranschlag zum Ausdruck zu bringen, der Frankreich seit 1961 heimsuchte. Für ein paar Tage waren politische Grabenkämpfe im Angesicht des Horrors zum Schweigen gebracht, Staatschefs aus aller Welt zeigten Solidarität und kamen nach Paris. Auch Ahmet Davutoğlu war unter den Trauergästen. Derselbe Davutoğlu, der es ein Dreivierteljahr später nicht schafft, auch nur eine annähernd so große Demonstration der Anteilnahme auf die Beine zu stellen und das angesichts des verheerendsten Terroranschlags in der Geschichte der Republik, dem ungleich mehr Unschuldige zum Opfer fielen als in Paris.

Fadenscheinige Ausreden statt ehrlicher Trauer

Stattdessen werden fadenscheinige Ausreden dafür vorgeschoben, wie es zu den Ereignissen kommen konnte. Spott und Wut erntet er zur Zeit wegen eines Interviews, das er vorgestern gegeben hat. Er behauptete tatsächlich, die Sicherheitskräfte des Landes hätten eine Liste mit potentiellen Selbstmordattentätern, man könne solche Anschläge aber nicht verhindern, da man die Selbstmordattentäter ja nicht festnehmen kann, bevor sie zur Tat schreiten. Es handele sich bei der Türkei schließlich um einen demokratischen Rechtsstaat, war seine Begründung. Davutoğlus Worte sind blanker Hohn. Es sind die Worte des Chefs einer Regierung, die seit zwei Jahren Journalisten inhaftieren und Razzien an Grundschulen durchführen lässt, weil sie eine „Parallelstruktur“ bekämpft, für die sie noch keinen einzigen Beweis vorlegen konnte.

Auch Staatspräsident Erdoğan bleibt seiner Linie treu, ja nicht zu viel Mitleid mit Opfern zu haben, die nicht zu seinem Lager gehören. Ein schriftliches Statement, ein Besuch am Anschlagsort und wie heute bekannt wurde, werden darüber hinaus ein paar leitende Sicherheitsbeamte suspendiert, um einen reibungslosen Ablauf der Ermittlungen zu gewährleisten. Ob die Suspendierung endgültig ist, oder sie ihre Posten nach den Ermittlungen zurückbekommen, wurde jedoch nicht bekanntgegeben. Im Gegensatz zu den Anschlägen von Diyarbakır und Suruç gibt sich die Regierung dieses Mal aber zumindest nach außen bemüht, den Fall aufzuklären. Die dreitägige Staatstrauer gilt explizit nicht nur den Anschlagsopfern, sondern auch den toten Soldaten und Sicherheitskräften der letzten Monate. Ohne Zweifel hätten die Soldaten und Polizisten ebenso eine öffentliche Trauerbekundung verdient. Dazu ließ sich die Regierung aber bisher auch nicht hinreißen, stattdessen werden sie jetzt in einem faulen Kompromiss mit abgearbeitet.

Der Tiefpunkt war jedoch das Verhalten Erkan Haylas, seines Zeichens AKP-Bürgermeister des Landkreises Kale in der Provinz Denizli. Die CHP wollte in seinem Stadtrat eine Schweigeminute für die Opfer des Anschlags abhalten, Haylas Stellvertreter Ali Değirmenci hat den Antrag aber abgelehnt. Später äußerte sich Hayla in sozialen Medien und meinte, er trauere nicht um Leute, auf deren Kundgebungen „so viele Fahnen illegaler Organisationen zu sehen sind, aber nicht die türkische“.

Es ist bezeichnend und traurig, dass ausgrechnet von denen, die als erste Religion und Moral missbrauchen, um ihre Politik zu rechtfertigen, der grundlegendste menschliche Anstand mit Füßen getreten wird. Man muss seinen politischen Gegner nicht mögen, aber so viel Taktgefühl, während einer Schweigeminute für die Opfer eines grausamen Terroranschlags innezuhalten, sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein.