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Gesellschaft

Wir brauchen einen starken Islam und selbstbewusste Muslime

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Wie umgehen mit Generalverdacht? Wie reagieren auf Anschuldigungen und Forderungen? Am besten gar nicht, meint Dr. Caroline Neumüller. Sie vermisst die Gelassenheit unter Muslimen. Diese müssten sich nicht auf jede Diskussion einlassen.

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Der Islam und die Muslime sind ein Dauerthema in Politik und Medien. Auch wenn der Anlass immer wieder ein anderer ist, sehen sich Muslime oft pauschalen Vorurteilen ausgesetzt und befinden sich, so die Islamwissenschaftlerin Dr. Caroline Neumüller, in einer Opferrolle, die ihnen oft nicht bewusst ist. Im DTJ-Interview spricht sich die Expertin für einen starken Islam und selbstbewusste Muslime aus und stellt Forderungen an die Politik.

Frau Neumüller, was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie von den Anschlägen von Paris hörten?

Fassungslosigkeit, tiefstes Entsetzen wie auch Angst um unsere Gesellschaft, unsere Werte und unser Zusammenleben. Wenn ein Nachbarstaat von diesem Terror unmittelbar betroffen ist, dann bin ich nicht pessimistisch, sondern realistisch, wenn ich sage, dass ich der Ansicht bin, dass Deutschland sich in Bezug auf diese Gefahr schnellstmöglich organisieren und (um-)strukturieren muss. Gleichzeitig waren meine Gedanken bei den Kriegsflüchtlingen, die in Massen zu uns strömen und die höchstwahrscheinlich am meisten unter diesem Wahnsinn leiden werden.

Was meinen Sie damit, dass Deutschland sich „schnellstmöglich organisieren und (um-)strukturieren“ muss?

Es ist notwendig, dass eine Zusammenarbeit innerhalb der Bundesregierung, zwischen den Parteien, aber auch zwischen der Politik und der Gesellschaft stattfindet. Es ist nicht nur meine, sondern auch die Wahrnehmung anderer Menschen zumindest in meinem Umfeld, dass die Politik ihre Arbeit für einen kleinen etablierten Kreis, jedoch nicht für die Masse, also die Gesellschaft, ausführt. Dabei fällt auf, dass sich oft auf Bereiche konzentriert wird, die weniger wichtig und aktuell als andere sind, die viel dringender Aufmerksamkeit und Strukturen benötigen. Ein gutes Beispiel, das nicht wiederholt werden sollte, ist die Politik zur Integration von Gastarbeitern, die in den 60er und 70er Jahren nach Deutschland kamen, wo man annahm, die meisten würden nach Beendigung ihrer Arbeitsverträge in ihre Heimatländer zurückkehren. Damals hatte man es jahrelang versäumt, aktiv zu werden, um diesen Menschen einen festen Boden und eine neue Heimat zu bieten. Deshalb ist es wichtig, dass in der heutigen Situation mit der Flüchtlingspolitik zukunftsweisend und integrierend gehandelt werden muss.

Worauf sollte Deutschland diesmal achtgeben?

Deutschland sollte eine gesunde Mitte finden, indem das Thema Sicherheit zwar in den Vordergrund gerückt, das Land aber nicht zu einem Überwachungsstaat werden sollte. Gleichzeitig ist die Justiz gefragt, notwendige Gesetze zur Asyl- und Flüchtlingspolitik zu erlassen und durchzusetzen, damit von Anfang an klar ist, wer ein Recht auf Aufnahme hier in Deutschland hat.

Wenn die Politik und Justiz genaue Wegweiser bereitstellen, dann ist es der Gesellschaft möglich, sich unter diesen Aspekten mit der gegeben Situation auseinanderzusetzen und sich selbst und den neu hinzugezogenen Menschen eine Heimat zu geben.

Nach jedem Terroranschlag beginnt eine Debatte darüber, ob der Islam etwas mit dem Terror zu tun hat oder nicht. Wie oft müssen Sie diese Frage seit den Anschlägen beantworten?

Diese Frage wurde mir nicht gestellt, sondern vielmehr von einigen dem Islam und den Muslimen kritisch gegenüberstehenden Personen als faktisches Statement vorgelegt, dem ich gegenüber Stellung nehmen sollte. Das liegt jedoch daran, dass ich mich regelmäßig in Islamkritiker-Kreisen befinde und mit obig benannten Personen eben genau darüber diskutiere. Diese Diskussionen führe ich mittlerweile seit knapp zwei Jahren und kann nur sagen, dass wenn man sich nicht in diesen Kreisen befindet, sich in der Realität auch selten diese Frage stellt.

Und was ist Ihre Antwort?

Es kommt darauf an, wie mir mein Gegenüber entgegentritt und zu welchem Zweck er oder sie eine Reaktion meinerseits erwartet. Aus meiner Sicht hat der Islam nichts mit dem Terror zu tun, allerdings haben die Muslime, die den Islam für ihre furchtbaren Zwecke gekidnappt haben, mit dem Terror sehr wohl etwas zu tun. Man muss zwischen der Religion und ihren Anhängern differenzieren und nicht beides pauschal in einen Topf werfen.

Gelingt das denn in der öffentlichen Debatte überhaupt?

Sehr selten. KritikerInnen hören und lesen es nicht gerne, wenn man als MuslimIn sagt, der Islam sei perfekt, die Muslime jedoch nicht. Und doch ist an diesem Zitat viel Wahres dran. Es gibt genug Indizien im Koran, die sich gegen Gewalt und gegen Terror aussprechen, auch wenn es an dieser Stelle gesagt sei, dass viele Kritiker genau das Gegenteil betonen, dass Gewalt an über 250 Stellen im Koran erwähnt würde.

Wie kann man konstruktiv mit dieser Mehrdeutigkeit der Offenbarung umgehen?

Es ist letztendlich eine Frage des Zuganges und der Interpretation. Der Koran ist, wie jede andere heilige Schrift, nicht einfach zu verstehen und es muss gelernt sein, wie man sich mit ihm beschäftigt, ihn interpretiert und als Gläubige(r) lebt. In einer Zeit der zunehmenden Polemisierung und Polarisierung können wir als in Deutschland lebende Muslime einen bewussten Beitrag zur Versachlichung der Diskussion und zum Dialog leisten, welcher jedoch auch angenommen werden sollte.

Wie könnte dieser bewusster Beitrag aussehen?

Viele Muslime versetzen sich unbewusst in eine Verteidigungsrolle, und aus der Position sollten wir uns befreien, denn wir müssen uns nicht verteidigen, sondern schlichtweg offen und produktiv aufklärend über unsere Religion und unsere Lebenseinstellungen, die sehr individuell natürlich sein können, sein. Es benötigt innere Stärke und Sicherheit wie auch Selbstbewusstsein, sich nicht zurückzuziehen, sondern sich deutlich, mit sanfter Bestimmtheit, zu positionieren.

Wie ein Autor des Tagesspiegels erklärte: „Wir brauchen einen starken Islam, und wir brauchen selbstbewusste Muslime. Denn nur wer sich seiner selbst bewusst ist, kann sich gegen die Extremisten in den eigenen Reihen wehren und eine klare Trennlinie ziehen zwischen sich und denen, die Gottes Namen pervertieren. Wer sich in die Ecke gedrängt fühlt oder aus Angst heraus handelt, verliert den klaren Blick.“

In der islamischen Gemeinschaft fehlt es an Strukturen, Organisation und religiös-weltlicher Professionalität. Die meisten, die sich engagieren, machen das ehrenamtlich mit der Hoffnung, ihren Mitmenschen und der Gesellschaft ein positives Beispiel in Bezug auf ihre Religion zu geben. Genau dort sollte man aufgreifen und Unterstützung anbieten. Auf die Worte beispielsweise zum Freitagsgebet, müssen Taten folgen, indem man sich in die Gesellschaft einbringt und nicht zuhause oder in der Moschee Däumchen dreht. Nicht umsonst gibt es das altbewährte Sprichwort: „Lieber Klotzen als Kleckern.“

Muslime sind ja im doppelten Sinne Opfer des Terrors. Erstens, weil sie selbst Opfer des Terrors sind. Zweitens, weil sie unter Generalverdacht stehen selbst Terroristen zu sein. Was ist der richtige Umgang mit dieser Situation?

Wichtig ist es, nicht in die so genannte Opferrolle zu fallen, die den Islam- und MuslimkritikerInnen in die Hände spielen könnte, denn damit würde sich selbst und anderen MuslimInnen nicht geholfen werden. Es ist unmöglich den einen richtigen Umgang mit der Situation zu benennen, denn jeder von uns Muslimen geht mit der Situation anders um.

Wieso?

Weil der individuelle Wissensstand und die einzelne Einbringung in Gesellschaft, Wirtschaft und Gemeindeleben nicht identisch ist. Wichtig ist, dass die islamischen Verbände zusammen und nicht gegeneinander arbeiten. Außerdem wäre es schön, wenn öffentliche Personen mit muslimischem Hintergrund sehr bedacht und gewählt vorgehen, denn ganz gleich welcher religiösen Richtung man zugeordnet wird, der Augenmerk liegt auf allen Muslimen. Jeder einzelne von uns kann seinen kleinen Beitrag leisten, Gutes zu tun, ein Vorbild zu sein, zu lernen, lehren und aufzuklären, und ganz einfach Mensch zu sein.

Was ist Ihre Empfehlung an einen Muslim, der am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder in der Schule mit dem Generalverdacht konfrontiert wird, seine Religion würde den Terror legitimieren?

Wahrscheinlich würde ich dem- bzw. derjenigen raten, Ruhe zu bewahren und wohlüberlegt zu agieren anstatt zu reagieren. In den meisten Fällen wird meines Erachtens eine Reaktion gewünscht und diesen Gefallen muss man seinem Gegenüber nicht geben. Zuerst Ruhe bewahren und Gelassenheit zeigen. Dann die Möglichkeit schaffen sich auszutauschen. Wir Menschen neigen leicht dazu, andere aus deren Reserve locken zu wollen anstatt darüber nachzudenken, ob und inwiefern die Person selbst betroffen ist oder nicht. Mir werden von IslamgegnerInnen Koranverse, Gelehrtenmeinungen und Überlieferungen sowie andere religiöse Instanzen vorgelegt, welche deren Meinung nach Gewalt/Terror angeblich religiös legitimieren.

Was kann man dem entgegensetzen?

Sich selbst mit den religiösen Quellen beschäftigen, denn der Gegenüber nutzt seinen so genannten Wissensvorteil, den er vermeintlich hat, gnadenlos aus. Es geht nicht um einen Koranvers-Schlagabtausch, jedoch um die konstruktive Diskussion, wie man mit den Quellen umgeht und wie man diese deuten und auslegen kann. Wenn jedoch eine destruktive Konfrontation stattfindet, dann würde ich mich selten auf eine Diskussion einlassen, denn wer eine vorgefertigte Meinung hat, wird sich selten von dieser abbringen lassen. In diesem Falle würde ich zu meiner ersten Empfehlung zurückgehen.


Caroline Neumüller, Jahrgang 1978, hat Rechtswissenschaften studiert und ihre Promotion in Islamwissenschaften absolviert. Ihr Thema: Konversion zum Islam im 21. Jahrhundert: Deutschland und Großbritannien im Vergleich. Aktuell hält sie Vorträge über den Islam in Deutschland. Sie ist seit 2007 Muslimin. Mehr über ihren Lebenslauf hier.