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Gesellschaft

„Wir, die Menschen der alten Türkei, verlassen die neue Türkei“

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Die Türkei hat unter der AKP große Fortschritte gemacht. Wirtschaftlich ging es bergauf, den Minderheiten wurde die Hand ausgestreckt, selbst die Situation der Kurden besserte sich, der jahrzehntelange Konflikt mit der PKK stand vor der Beilegung. Die Partei eilte von Sieg zu Sieg.

Doch von dieser Leichtigkeit ist in den letzten Jahren wenig übriggeblieben. Das Wirtschaftswachstum hat sich verringert, die Abstände zwischen teils verheerenden Anschlägen werden immer geringer und zuletzt erlebte das Land einen abscheulichen Putschversuch, dem Hunderte zum Opfer fielen. Obwohl die AKP alleine regiert, weist sie stets jegliche Verantwortung von sich. Mal ist die – oft tatsächlich konfuse und planlose – Opposition schuld, mal ausländische Mächte, mal die Zinslobby und neuerdings die Bewegung von Fethullah Gülen.

Demokratie reduziert die AKP längst nur noch auf die Wahlurne. Mit infrastrukturellen Mega-Projekten überzeugt sie weiterhin die eigene Basis, wobei sie die Brücken und Flughäfen zu Objekten stilisiert, auf die das Ausland nur neidisch sei und den Aufstieg der „Neuen Türkei“ zur Weltmacht – spätestens im Jahr 2023 – verhindern wolle. Durch diesen kaum hinterfragten Kampf gegen die Feinde im Inneren und Äußeren mobilisiert sie ihre Wählerschaft, verprellt aber auch zunehmend die Menschen, die sich mit der AKP-Politik nicht (mehr) identifizieren können.

Denunziationen, willkürliche Anklagen, Suspendierungen, Inhaftierungen, Enteignungen, die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Zerschlagung der Medien, die vor allem nach dem Putsch zugenommen haben, verstärken das Befremden. Kaum jemand hat etwas dagegen, dass sich die Türkei gegen Staatsfeinde und Putschisten wehrt. Es ist ihr gutes Recht. Doch die schiere Unverhältnismäßigkeit, die mittlerweile selbst bei Staats- und Ministerpräsident Kopfschütteln auslöst, zerstört bei vielen Menschen die Hoffnung, dass die Türkei wieder ein Land wird, das im Einklang mit sich selbst steht und in dem nicht jede oppositionelle bzw. kritische Stimme direkt als Vaterlandsverrat abgestempelt wird.

Während viele im Ausland lebende Türken aufgrund der positiven Entwicklung in den letzten Jahren eine Rückkehr erwogen, denken nun immer mehr in der Türkei lebende Menschen darüber nach, das Land zu verlassen – vorausgesetzt, ihre Pässe sind nicht annulliert worden. Eine junge Familie, die diesen Entschluss gefasst hat und nach Kanada auswandert, beschrieb vor wenigen Wochen auf Facebook ihre Gemütslage.

Unter der Überschrift „Abschied von der Türkei“ schildert Nora Jartan stellvertretend für ihre einer Minderheit in der Türkei zugehörige Familie die Beweggründe. „Wir gehen“, beginnt sie ihre Worte. „Wir wandern aus aus einem Land, in dem wir zwar geboren wurden, das wir aber nicht wiedererkennen können, in ein Land, in dem wir hoffen, satt zu werden.“ Nicht die Regierenden seien das eigentliche Problem, sondern die Menschen, die die Politik mittrugen und guthießen. „Sie hassen uns, weil wir nicht so sein wollen wie sie. Wir fühlen uns in dieser Atmosphäre nicht gut aufgehoben“, schreibt Jartan weiter. Der Beitrag wurde mittlerweile fast 2.500 Mal geteilt.

Das menschliche Leben sei kaum noch etwas wert, schlimmer sei allerdings, dass das Lagerdenken selbst über den Tod hinaus bestehe. Dass sich Menschen über den Tod anderer freuen könnten, kann Jartan ganz und gar nicht nachvollziehen.

Der wichtigste Grund, die geliebte, aber nicht mehr wiederzuerkennende Heimat zu verlassen, sei aber ihr Kind, so die junge Frau. Sie wolle es nicht unter diesen Umständen großziehen.

Ministerpräsident Binali Yıldırım hatte zu seinem Amtsantritt das Ziel ausgegeben, die Anzahl der Feinde zu verringern und jene der Freunde zu vermehren. Im Ausland versucht er dies verstärkt umzusetzen.

Noras Familie und Millionen andere würden es sicherlich begrüßen, wenn dieses Ziel bald auch im Landesinneren verfolgt wird. Damit Menschen nicht sterben und sich wieder wohl und sicher fühlen, egal ob sie zu einer Minderheit gehören oder nicht.