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Kolumnen

„Wir können alles – außer Prozessieren“

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Mag sein, dass Baden-Württemberger kein Hochdeutsch und Berliner keinen Großflughafen bauen können. Die Pannen des Oberlandesgerichts München noch vor Beginn des NSU-Prozesses werfen aber auch kein gutes Licht auf die bayerische Justiz. (Foto: dpa)

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„Wir können alles – außer Prozessieren“
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Eigentlich sollten wir in Deutschland in diesen Tagen über etwas ganz anderes sprechen. Eigentlich sollten wir über Beate Zschäpe, über ihre mögliche Schuld im Zusammenhang mit der schrecklichen NSU-Mordserie sprechen. Über ihre Motive, über ihren Lebensweg, der sie dazu brachte, unschuldige Leben auszulöschen, die ihr kein Haar gekrümmt hatten und die sie auch nicht persönlich kannte. Eigentlich sollten wir – ausgehend von Einzelschicksalen – über die Bedingungen des Zusammenlebens im 21. Jahrhundert sprechen.

Denn die Wanderung von Menschen von ländlichen Gebieten in die Städte, von den ärmeren in wohlhabendere Regionen, die manchmal auch über Landes- und Kulturgrenzen hinweg erfolgt und besser entwickelte Gesellschaften vor neue Herausforderungen stellt, ist eine Aufgabe, vor der es kein Entrinnen gibt, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Auch lange nachdem die Feststellung einer möglichen Schuld Zschäpes und ihrer Komplizen abgeschlossen worden sein wird und noch lange nach dem irgendwann eintretenden Verschwinden Zschäpes und ihrer Kumpane aus dem öffentlichen Bewusstsein wird diese Aufgabe ihre Aktualität beibehalten. Eigentlich.

Bayerische Justizgroßbaustelle?

Aber worüber sprechen wir tatsächlich? Über alles, außer diese Fragen. Wir sprechen über ein Gericht, und zwar über das Oberlandesgericht München, das es bisher geschafft hat, Aspekte in den Vordergrund zu stellen, die überhaupt kein Thema sein sollten. Wir sprechen über ein Gericht, das es zu Beginn erst mal fertiggebracht hat, überhaupt keine türkischen Medien zu akkreditieren, obwohl acht der zehn Opfer türkischer Herkunft waren und die Angelegenheit längst eine deutschlandweite und darüber hinausgehende Bedeutung erlangt hatte. Wir sprechen über ein Gericht, das diesen Missstand erst durch die Intervention des Bundesverfassungsgerichts zu korrigieren bereit war, wobei das Wort „korrigieren“ sogar einen beschönigenden Charakter hat.

Wir sprechen aber auch über ein Gericht, dass selbst diese „Korrektur“ nicht auf befriedigende Weise fertigbringt. Auch das Ergebnis der Neuverteilung der 50 festen Plätze an die deutsche und internationale Presse ist alles andere als zufriedenstellend. Bleibt es bei dem derzeitigen Stand, werden völlig unpolitische Frauenzeitschriften wie „Brigitte“, lokale Münchener Anzeigenblätter und ähnliche Formate mit überschaubarem Adressatenkreis live vom Ort des Geschehens berichten können, nicht aber Blätter von landesweiter Bedeutung wie die „Zeit“, FAZ, „Welt“, taz oder internationale Nachrichtenagenturen wie Reuters, AP, AFP.

Der Präsident des Gerichts, Karl Huber, verteidigt das Verfahren als angemessen und gerecht, wie er zuvor auch die ursprüngliche Nicht-Akkreditierung türkischer Medien verteidigt hat. Das Losverfahren angemessen und gerecht? Beim nächsten Staatsbesuch von Angela Merkel in China, auf Bali oder Hawaii bewerbe ich mich dann auch vorsichtshalber. Vielleicht trifft mich das Losglück, wer weiß?

Unabhängigkeit = Narrenfreiheit?

Natürlich verdient die Institution des Gerichts Respekt, auch im Sinne des Rechtsfriedens. Auch ist die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter ein hohes Gut. Aber bedeutet denn Unabhängigkeit der Richter auch Narrenfreiheit? Eine Freizeichnung von Fingerspitzengefühl und Augenmaß? Auch eine andere Frage drängt sich auf: Wie soll es weitergehen mit dem Prozess? Wie lange will man sich noch mit Nebensächlichkeiten aufhalten? Mit welchen Argumenten will das Gericht die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass es in der Lage ist, ein gerechtes Urteil zu fällen, wenn es schon in der Vorbereitungsphase von einem Fettnäpfchen in das nächste tappt?

Die ganze Angelegenheit holt das bayerische Selbstbewusstsein auf den Boden der Tatsachen zurück. Mag sein, dass die Bayern mit ihrem Freistaat einen der schönsten Flecken Deutschlands ihr Eigen nennen. Dass sie schöne Berge haben, mit BMW und Audi mit die schönsten und besten Autos der Welt bauen. Dass sie gut und effektiv Fußball spielen können, wie es gerade der FC Bayern München beweist, der seit gestern auch im Finale des bedeutendsten europäischen Wettbewerbs für Vereinsmannschaften steht. Aber einen vernünftigen Prozess führen, der dessen Bedeutung entspricht, das können sie offenbar nicht. Nicht nur Berlin hat, wie es aussieht, eine problematische Großbaustelle!