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Politik

„Wir leben in Istanbul wie Eintagsfliegen: Es kann jederzeit vorbei sein“

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Kommentar Das Jahr 2016 ist überstanden. Es war weltweit kein gutes Jahr, aber besonders für die Türkei war es furchtbar. Insgesamt war die Stimmung im Lande gedrückt, besonders nach dem Putschversuch und den Verhaftungswellen von Journalisten, Beamten, Akademikern, Polizisten, Juristen und der systematischen Verfolgung von Regierungsgegnern, der Zurückdrängung demokratischer Grundprinzipien sowohl in staatlichen Insitutionen als  auch im privaten Leben der Bürger, indem der Staatspräsident das Denunziantentum ausbaut und sogar initiiert hat. Man hofft auf bessere Zeiten, die Lage jedoch wird zunehmends schlechter.

Viele Bürger fühlen sich in Anbetracht der zahlreichen Anschläge, der Gewalttaten und der Vorkehrungsmaßnahmen, die letztlich doch keine weiteren Anschläge verhindern können, nicht mehr wohl. Viele haben Angst, selbst wenn zur Arbeit gehen, den Bus nehmen müssen, sich in Einkaufsstraßen oder an Hauptverkehrspunkten befinden. Viele überlegen sich am Wochenende zweimal, ob sie in einem der angesagten Läden mit Freunden etwas trinken und feiern wollen. Viele meiden mittlerweile „unnötigen“ Ausgang.

Genau wie zur Silvesternacht: Das neue Jahr war kaum eine Stunde alt, Menschen haben sich freudig von 2016 verabschiedet, da berichten die Medien schon von einer Schießerei im angesagten Club Reina. 39 Tote und über 65 Verletzte. Die Rede ist von zwei bis drei Tätern, die den Club gestürmt haben sollen, in dem sich rund 600 Gästen befanden. Der erste Täter soll sich dem Club vom Norden aus zu Fuß genähert und sich bei den Sicherheitskräften am Eingang als Entertainer im Weihnachtsmannköstüm  ausgegeben haben. Nachdem die Security den Ausweis sehen und den Bodycheck durchführen wollte, zog er die Waffe und eröffnete das Feuer. Anscheinend waren zwei weitere Täter beteiligt, die den Club gestürmt haben. Erst haben sie im unteren Bereich des zweistöckigen Clubs wahllos umher geschossen, dann haben sie sich in die obere Etage heraufgearbeitet. Die Schießerei dauerte gute 2 Minuten. Dann war alles vorbei. Wie die Überwachungskameras des Clubs und Amateuraufnahmen vom gegenüberliegenden Ufer zeigen, ging die Schießerei um 1.20.50 Uhr los und endete um 1.30.00 Uhr. Mitunter feuerten die Täter dabei 45 Sekunden ohne Pause und wechselten in der Zeit sechs mal die Munition.

Als die Ambulanz, Sicherheitskräfte, Angehörige und die Presse eintrafen, befand sich immer noch ein Täter lebend mit unzähligen Gästen am Ort des Massakers. Betroffene, die durch die Sicherheitskräfte herausgeholt werden konnten, stehen unter Schock. Ein Kellner, der wie viele andere Gäste ins Wasser gesprungen war, berichtet von einer zusätzlichen Explosion, die durch eine Handgranate ausgelöst worden sein soll.

Viele fragen sich, wie das bei soviel Sicherheitskräften passieren konnte. Man sucht nach Verantwortlichen, nach Gründen, nach Lücken. In der Nacht waren in Istanbul 25 000 Sicherheitskräfte  im Einsatz. Viele Polizeibeamte waren am Taksim-Platz stationiert. In allen Clubs und Nachtbars der Nachtszene gab es Securitykräfte. Trotz allem passierte es doch. Sitzt der Plan, und ist der Wille gefasst, schaffen es die Täter wo sie es wollen, wann sie es wollen. Experten gehen von einer geplanten und gut vorbereiten Aktion aus.

Die Schießerei im Club Reina ist mittlerweile nur ein Glied einer langen Kette von Attacken, die viele Menschenleben gefordert hat. Es ist aber auch die erste im Jahr 2017. Viele haben damit gerechnet und sind dementsprechend nicht ausgegangen. Man hat im engen Kreise zuhause gefeiert oder in der Eckkneipe im Viertel. Hauptsache man schwärmt nicht zu weit aus, wenn man schon ausgehen möchte. Irgendwohin, was man zu Fuß erreichen kann. Dabei weiß man, dass man nirgends wirklich sicher ist. Wenn es passiert, dann passiert es. Und niemand ist davor gefeit.

Solchen Menschen, die in Mengen schießen, bomben legen, geht es dabei nicht darum 10 bis 99 Menschen weniger auf der Welt zu haben. Es geht ihnen auch nicht darum, jemand Bestimmtes  auszuschalten sondern es geht um eine bestimmte Zielgruppe, die eine bestimmte Haltung hat, die solche Täter als nicht lebenswert erachten. Diese möchte sie brechen.

Man kommt man nicht umhin, sich diesen Ängsten und dem Einfluss zu entziehen. Solche Ereignisse prägen, bleiben im Gedächtnis und ändern auch die Wahrnehmung und das Verhalten an öffentlichen Plätzen. Die Menschen sind aufgewühlt, wütend, traurig, geschockt. Sie begreifen, dass sie es jederzeit treffen kann, wie jüngst die unzähligen feiernden Leute im Reina.

Das Jahr 2016 hat die Menschen in der Türkei sehr geprägt. Sie sind müde von all den Anschlägen, den Verhaftungswellen, den Beschlüssen der Regierung, die die Freiheiten immer mehr einengen.

Dennoch versuchen sie, ihr Leben so gut wie möglich weiterzuleben. Denn verhindern kann man vieles nicht, leben in Angst geht aber auch nicht auf die Dauer. Trotz der zahlreichen Ereignisse, hoffen die Menschen auf bessere Zeiten und versuchen ihren Alltag so angenehm wie möglich zu gestalten.

Ein Ladenbesitzer spricht dabei vielen Istanbulern aus dem Herzen:

„Wir leben in Istanbul wie Eintagsfliegen: Es kann jederzeit vorbei sein. Es ist eine Großstadtmetropole, bei der noch so viele Sicherheitskräfte letztlich nichts bewirken können. Wer will denn wissen, wann und wo etwas passiert. Wenn sich ein Attentäter, Terrorist oder sonstwer etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann man dem nur die wenigsten Anschläge rechtzeitig verhindern oder vereiteln. Umso mehr wissen wir vieles zu schätzen. Die Zeit, die Väter und Mütter mit ihren Kindern verbringen, die Abende mit Freunden, das Mittagessen, dass man mit Kollegen von der Arbeit genießt. So ironisch es klingt, wir leben bewusster und sind mitfühlender gegenüber jenen, die Angehörige verloren haben. Wir wissen das Leben umso mehr zu schätzen.“