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Kolumnen

Wir sind alle Flüchtlinge

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Vor einigen Tagen saß ich in München in einem Café, neben mir ein jüngerer, italienisch aussehender Mann mit seinem Sohn. Unsere Blicke kreuzten sich, ich spürte ein Interesse, zu akzeptierende Neugier, irgendwann kamen wir miteinander in ein sehr nettes, lebhaftes Gespräch. Der Mann stellte sich als ein Deutscher türkischer Abstammung heraus. Er war Unternehmer. Sehr schnell landeten wir bei unseren Familiengeschichten. Ich fragte ihn nach der türkischen Region, aus der seine Eltern einst nach Westen aufgebrochen waren und mein Tischnachbar erzählte mir, dass die Familie eigentlich aus Bagdad komme. Und ein wenig stolz fügte er hinzu, dass sie vom Kalifen Ali, einem Cousin des Propheten, direkt abstamme.

Über ähnliche Familien- und Vertreibungsschicksale habe ich auch bei anderen Begegnungen mit türkischstämmigen Deutschen gehört. Sie zeigen an, dass es gegen Ende des Osmanischen Reiches vor knapp 100 Jahren zu riesigen Bevölkerungsverschiebungen im Nahen und Mittleren Osten, an der Peripherie der heutigen Türkei, gekommen ist. Die große Reise der türkischen Gastarbeiter, die vor einem halben Jahrhundert begann, bedeutet somit für viele Familien eine erneute Umpflanzung, weil man ursprünglich gar nicht aus Anatolien stammte, sondern ein, zwei Generationen zuvor selbst Einwanderer in die Türkei gewesen war. Der Schriftsteller Feridun Zaimoğlu erzählte mir von den Erfahrungen, die seine Familie in den Wirren des letzten Jahrhunderts in den Grenzregionen zu Russland durchmachte.

Deutsche Erfahrung mit Flucht und Vertreibung

Da ich selbst Kind von Flüchtlingen bin – mein Geburtsort liegt im heutigen Russland – habe ich viel Verständnis für die Situation von Flüchtlingen und von Migranten. Ihre Erzählung, ergänzt um die meine, verbindet. Würde man sich in der deutschen Mehrheitsgesellschaft umhören, wäre man erstaunt, wie groß die Zahl derer ist, die ähnliche Geschichten erzählen können. Angesichts der dramatischen Flüchtlingssituation im Mittelmeer versucht die deutsche Politik, angeführt vom Bundespräsidenten, auf die spezifischen deutschen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung hinzuweisen, für Toleranz und Großzügigkeit zu werben. 12 Millionen Menschen hat die junge, noch im Entstehen befindliche Bundesrepublik in den ersten Jahren nach 1945 aufgenommen. Meine Schwiegereltern mussten die Hälfte ihrer Mietwohnung in der Nähe von Stuttgart an eine andere Familie abtreten. Meine eigenen Eltern nahmen die fünfköpfige Familie des Bruders meiner Mutter auf. Sie hatten Platz genug, die Dienstwohnung des Leiters einer zweiklassigen Volksschule war ausreichend groß für zwei Familien.

Instabilitäten nicht nur rund um Europa 

In jedem Fall wird sich Deutschland durch diese Entwicklungen noch rascher verändern als es bislang ohnehin den Anschein hatte. Die Instabilitäten rund um Europa nehmen zu, und wenn wir die Situation in Griechenland oder auf dem Balkan unvoreingenommen betrachten, sind auch europäische Staaten und Gesellschaften in Gefahr, auseinanderzubrechen. Staaten können scheitern. Gefährlich wird es immer dann, wenn Unterschiede betont werden, wenn Minderheiten erklären, dass sie mit anderen Mehr- oder Minderheiten nicht zusammenleben können, dass man sich abgrenzen müsse. Kommt es zum Konflikt, gehen nach den Erfahrungen, die man hierzulande oder auf dem Balkan nach 1990 sammelte, Generationen ins Land, bis man sich wieder verträgt.

Auf die deutschen und europäischen Politiker kommen somit große Herausforderungen zu. Angesichts der hoch entwickelten und ausgebauten Sozialstaaten wird es nicht leicht fallen, die nötige Flexibilität und Gabe zur Improvisation zu entwickeln, die es nach 1945 in Deutschland gab, um mit dem Ansturm der Flüchtlinge fertig zu werden. Und: die heutige Situation ist eine andere als nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganz passt der Vergleich zwischen den Flüchtlingen von damals und heute nicht. Am Ende wird es von den Menschen, die sich auf der Straße begegnen, die vom Fenster auf der einen Seite der Straße in das Fenster auf der anderen Seite hineinschauen, abhängen, wie und ob die Aufnahme der „Neuen“ gelingt. Hilfreich ist dabei die Erzählung, dass wir alle Flüchtlinge sind.