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Kultur/Religion

„Wir sind in einer Verfassung, in der wir uns vor Wörtern fürchten“

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Nadir Sarıbacak ist zweifellos einer der begnadetsten Schauspieler der Türkei. Bei der Verleihung der Goldenen Orange, dem türkischen Oscar, sorgte er für einen kleinen Eklat. Im DTJ-Interview erklärt er die Hintergründe und warum er gern öfter im Ausland arbeiten würde, aber noch nicht kann.

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Er bringt seine Charaktere derart authentisch rüber, dass die Regisseure seine Nebenrolle während den Aufnahmen upgraden, weil die Zuschauer auf allen erdenklichen Wegen darauf drängen. Es kam sogar einmal vor, dass Nadir Sarıbacak in einer Nebenrolle derart aufblühte, dass er einen eitlen Alt-Star des türkischen TV-Business aus dem Rampenlicht stieß. Daraufhin endete die Serie abrupt, da der extrovertierte Hauptdarsteller unglücklich über den Trend in den sozialen Netzen war.

Nadir Sarıbacak zeichnen seine extremen Emotionen aus; die Seele, die seine Rollen durch sein Talent bekommen, fallen auf, sodass man denkt „Kein anderer, genau er musste diese Rolle spielen!“ Seine Karriere begann in einem kleinen und überschaubaren Theater in Istanbul. Istanbul ist ein Schauplatz der Künste und strotzt nur so vor kleinen, aber aussagekräftigen Theatern. Mit seiner ersten Hauptrolle in „Unwahrscheinlich“ (Uzak Ihtimal) machte er auf sich aufmerksam und gewann prompt den Preis für den besten männlichen Hauptdarsteller bei den Filmfestivals Altın Lale und Altın Koza. Mit seiner jüngsten Rolle im Film „Efeu“ (Sarmaşık) gewann Nadir Sarıbacak nun den türkischen Oscar, die Goldene Orange von Antalya (Altın Portakal).

Im Interview mit DTJ sprach Nadir Sarıbacak unter anderem über die skandalträchtige Preisverleihung für die Goldene Orange. Bei der Preisverleihung hatte er eine kurze Rede über „Brüderlichkeit und den aufrichtigen Dialog, der uns alle retten kann“ gehalten, die aber von regierungsnahen Medien zensiert wurde.

Herr Sarıbacak, Sie sagten „Uns wird die Brüderlichkeit und der aufrichtige Dialog retten“ und haben damit alle gerührt. Wie kam diese Impulsrede zustande? War das geplant?

Sarıbacak: Natürlich schwirrten in meinem Gedächtnis Aussagen herum, aber am Pult habe ich einfach losgelassen. Die Heimat hat einen aufrichtigen Dialog nötig. Wir wurden in tausend Scherben zerschlagen und gespalten. Es sterben Zivilisten, Polizisten und Soldaten. Ich wollte Worte verlieren, die uns zusammenbringen. Ich habe die unterschiedlichsten Freunde und ich habe sie nicht bloß gern, sondern ich liebe sie! Ich mag sie, weil sie so sind, wie sie sind. Ich wollte sagen, dass ein Austausch, das gemeinsame Reden, uns retten kann. Wie viel davon ich tatsächlich zum Ausdruck bringen konnte, daran kann ich mich nicht mehr erinnern.

Was sagen Sie zu der Zensur, die geschah, als Sie live geredet haben. Haben Sie etwas gesagt, das hätte zensiert werden müssen?

Sarıbacak: Ich wollte etwas über Brüderlichkeit und Dialog sagen. Gott sei Dank ist mir das gelungen, wenn auch nur kurz. Aber die Regie hat irgendwie Panik bekommen und das Ende meiner Rede wurde weggeschnitten. Wir sind in einer Verfassung, in der wir uns vor Wörtern fürchten. Aber naja, ich nehme es ihnen nicht übel.

Sie kennt man in der Regel von Rollen, in denen sie schwache oder sensible Persönlichkeiten spielen. In Ihrer Rolle als Cenk bei „Efeu“ sind Sie ein ganz Anderer. Wie wird Cenk ihren Werdegang beeinflussen?

Sarıbacak: So habe ich nie gedacht. Ich habe stets versucht, aus der Rolle das bestmögliche heraus zu holen. Als Tolga Karaçelik (Regisseur) mir Cenk angeboten hat, war ich begeistert. So einen Charakter, der mich richtig fordert und dessen Gefühle mich neugierig machen, wollte ich schon lange verkörpern.

Bei Serien haben Schauspieler oft Bedenken, wenn sie sich einer Rolle widmen. Sie fürchten die Reaktionen der Zuschauer. Hatten Sie bei Cenk solche Bedenken?

Sarıbacak: Nein. Im Gegenteil. Cenk hat mein Image, das mir mittlerweile anhaftete und mich auch eingeengt hat, zunichte gemacht. Cenk hat mein Spielfeld erweitert.

Es war also eine günstige Gelegenheit…

Sarıbacak: Ja. Aber nur mit solch einer Intention kann man nicht handeln. Wenn man das Szenario liest, muss einem das Bauchgefühl sagen: „Das will ich spielen!“ Ich habe nicht angenommen, weil ich diese Art von Rolle übernehmen wollte. Die Herausforderung hat mich gefesselt.

Ist das eine Provokation?

Sarıbacak: Nein. Provozieren ist falsch. So kann man nicht arbeiten und auch keinen Film drehen. Denn so fällt auch die Gier des Schauspielers auf. Das ist etwas Schlechtes. Man muss neugierig werden für die Rolle, es muss einen extrem reizen. Schauspieler agieren aus der Leidenschaft für eine Sache heraus. Mit dieser Leidenschaft beginnt das Arbeiten.

In dem Film sieht man eine große Harmonie zwischen den Schauspielern sowie begnadete Einzelleistungen. Habt ihr einander vor den Drehs häufig getroffen? Oder war es die gemeinsame Zeit auf dem Schiff? Wie habt ihr euch vorbereitet?

Sarıbacak: Zunächst war das Casting sehr gut. Dann war auch das Szenario exzellent. Wenn das Szenario so gut ist, dann lässt es die Gruppe auch aufblühen. Die Harmonie stammt vom Szenario. Der Film wurde in 19-20 Tagen gedreht. In dieser Zeit haben wir viel Zeit miteinander verbracht und etwas über die Welt der Schifffahrt gelernt. Der Raum war eng und das hat die Prozesse beschleunigt. Außerdem kennt sich Tolga in der Schifffahrt sehr gut aus.

In Serien spielen Sie in der Regel kleine Rollen, aber mit der Zeit kriegen Sie immer mehr Spielzeit. Liegt das am ursprünglichen Szenario oder weil die Produzenten Ihre Begabungen erst später entdecken?

Sarıbacak: Weil ich ein Spätzünder bin, deshalb wohl eher. Ernsthaft. In den ersten Folgen versuche ich die Rolle zu verstehen und zu verinnerlichen. Nach und nach baue ich den Charakter dann auf. Eigentlich habe ich die Rolle schon am Anfang vor Augen, aber um dort anzukommen vergeht nun einmal etwas Zeit. Aber im Kino ist das nicht so. Man beginnt ohnehin drei Monate vor den Drehs zu arbeiten. Dort angekommen hat man schon alles im Kopf. Aber das Leben in der Serie ist schnell. Dort braucht man die Zeit.

Mit dem Film „Winterschlaf“ von Nuri Bilge Ceylan waren Sie bei den Cannes Film Festivals und mit „Efeu“ bei Sundance Film Festivals. Sie haben den Schritt auf die internationale Bühne gewagt. Gibt es in naher Zukunft internationale Projekte? Oder gar konkrete Angebote?

Sarıbacak: Ich habe eine sprachliche Barriere, das ist ein großes Hindernis. Ich bin immer noch keine internationale Person. Freunde mit internationaler Perspektive haben dort Kontakte aufgebaut, während ich sie nur aus der Ecke beobachten konnte. Aber nach jedem Festival sage ich mir: „Du lernst jetzt die Sprache!“ Dieses Jahr habe ich einen Englischlehrer. Nicht nur wegen neuer Projekte und Angebote, sondern um neue Menschen kennenzulernen und um mit ihnen über Kino und Film zu reden. Ich will unbedingt nach Europa, ich habe eine große Vorliebe für das europäische Kino. Deshalb will ich schleunigst bereit sein.

Also gibt es solche Zukunftspläne…

Sarıbacak: Ja, so ist es. Das ist ein Resultat davon, bei Festivals in einer Ecke den einsamen Specht zu spielen. Entweder gehe ich nicht mehr auf Festivals oder ich lerne endlich Englisch. Bei Sundance kam eine Frau zu mir und meinte: „Ich will mit Ihnen über das Kino und über Filme reden.“, aber natürlich sagte sie all das einem Freund, den ich bei mir hatte, weil ich sie leider nicht verstehen konnte. Sie sagte: „Vielleicht kommen Sie auch nächstes Jahr zu den Sundance Festivals. Ich hoffe wir können dann miteinander reden.“ Das tat sie so aufrichtig und innig, dass ich zurück in Istanbul sofort mit dem Englischunterricht begonnen habe.