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Politik

Wo ist Hurşit Külter?

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Seit Ende Mai gibt es vom kurdischen Politiker Hurşit Külter kein Lebenszeichen mehr. Die Umstände seines Verschwindens lassen viele befürchten, dass eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren türkischen Geschichte erneut aufgeschlagen werden könnte: Hat der Staat Külter verschwinden lassen?

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Ein Fall beschäftigt derzeit linke und kurdische Kreise in der Türkei, der viele an die dunkelsten Kapitel der achtziger und neunziger Jahre erinnert: Seit mittlerweile 48 Tagen ist Hurşit Külter verschwunden. Weder Familie, noch Freunde oder Kollegen wissen, wo er sich derzeit aufhält, wie es ihm geht – und ob er überhaupt noch lebt. Das Brisante an der Geschichte: Külter ist Politiker der „Demokratischen Partei der Regionen“, DBP (Demokratik Bölgeler Partisi), und hatte sich bereits mehrfach öffentlich für die Ausrufung lokaler Autonomie in den kurdisch besiedelten Gebieten der Türkei ausgesprochen. Die DBP – bis zu ihrer Umbenennung im Juli 2014 türkeiweit als „Partei für Frieden und Demokratie“ (BDP, Barış ve Demokrasi Partisi) bekannt – ist die Schwesterpartei der HDP und ihr lokalpolitischer Ableger. Vor diesem Hintergrund und angesichts der dubiosen Umstände seines Verschwindens wird nun spekuliert, ob er wie so viele seiner früheren Wegbegleiter dem türkischen Staat zum Opfer gefallen ist.

Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Das Verschwindenlassen von Personen war vor allem während des blutigen Krieges zwischen Staat und PKK in den achtziger und neunziger Jahren eine gängige Methode des Geheimdienstes und paramilitärischer Einheiten im Südosten der Türkei. Tausende von Menschen wurden in dieser Zeit verschleppt und tauchten nie wieder auf. Viele konnten erst in den Jahren und Jahrzehnten nach ihrem Verschwinden als Leichen in Massengräbern identifiziert werden; der letzte Fall solch eines Verschwindenlassens ereignete sich erst 2001. „Beyaz Toros Dönemi“, die „Ära der weißen Toros“, nennen viele diese Zeit, nach den Fahrzeugen, die JİTEM damals benutzte. JİTEM, der berüchtigte informelle Geheimdienst der türkischen Gendarmerie, dessen schiere Existenz von offizieller Seite jahrelang geleugnet wurde, ist eines der grausamsten Symbole des Tiefen Staates. Tausende Fälle von Entführung, Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen werden ihm zugeschrieben: Wenn ein weißer Toros in ein kurdisches Dorf gefahren kam, war das oft der Besuch eines Todesengels. Viele befürchten nun, dass angesichts des wieder aufgeflammten Krieges im Südosten auch diese grausame Ära zurückkehren könnte.

Die Umstände von Külters Verschwinden machen wenig Hoffnung

Und die mysteriösen Umstände, unter denen der kurdische Politiker verschwunden ist, lassen das Schlimmste befürchten. Es gibt verschiedene Versionen der Ereignisse, sicher ist jedoch, dass das letzte Lebenszeichen Külters auf den 27. Mai datiert. Da herrschte in seiner Heimatstadt Şırnak bereits seit 82 Tagen eine Ausgangssperre, die der Zivilbevölkerung furchtbares Leid auferlegte. Sein Vater Hamdi berichtet, dass er ihn am 14. März, dem Tag, an dem die Ausgangssperre verhängt wurde, das letzte Mal gesehen hat: „Er verließ das Haus mit nichts als einem Laptop und einem Stift. Aber die Polizei hat die Ausgangssperre verhängt, nachdem er gegangen war – er ist nie zurückgekehrt.“ Gesehen hat seine Familie den 33-Jährigen seitdem nicht mehr, sporadischen Kontakt konnten sie jedoch noch über Telefon und Internet halten. Am Morgen des 27. Mai erhalten sie dann das letzte Lebenszeichen von ihm: Er sei in einer „bedrückenden“ („zorda“) Lage, schrieb er, und, dass „sie jetzt kommen“. Seitdem hat niemand mehr etwas von Hurşit Külter gehört.

Bekannte vertreten die These, dass das Gebäude, in dem Külter sich aufhielt, von Sicherheitskräften umstellt war. Es gibt Zeugen, die gesehen haben wollen, wie er von Spezialeinheiten der Polizei verhaftet wurde. Auch seine Familie scheint sich sicher zu sein, was mit ihm geschehen ist. „Der Staat hat sich meinen Sohn geholt, das wissen wir“, sagt Mutter Kerime Külter verzweifelt. Das Verhalten der Behörden wiederum trägt nicht gerade dazu bei, dieser Überzeugung entgegenzuwirken. In sozialen Medien wiederum wird vielfach die Behauptung geäußert, Külter habe sich entweder in die Berge abgesetzt, also der PKK angeschlossen, oder sei von ebendieser entführt worden. Die wenigen Indizien, sie es gibt, sprechen aber eher gegen diese Thesen.

Was genau auch am 27. Mai geschehen sein mag, Hurşit Külter ist jedenfalls seitdem nicht wieder aufgetaucht. Noch am Abend seines Verschwindens meldet allerdings ein Twitter-Account namens „BÖF“, der mutmaßlich von Angehörigen türkischer Spezialeinheiten (viele sagen: JİTEM) betrieben wird, dass Külter verhaftet worden sei. Der Tweet wird umgehend wieder gelöscht. Die Familie wendet sich deshalb an Polizei und Verwaltung, um herauszufinden, ob Külter festgenommen worden ist. Sie bekommt keine Antworten; die Polizei will nichts von einer Verhaftung wissen. Das Gouverneursamt teilt der Familie mit, sie solle doch mal im Leichenschauhaus nachsehen. Also fährt die Familie ins staatliche Krankenhaus von Şırnak, um in Erfahrung zu bringen, ob Hurşit eventuell dort eingeliefert wurde. Ihren Sohn und Bruder finden sie auch dort nicht, dafür schlägt ihnen geballter Zynismus entgegen: „Machen sie sich keine Sorgen, morgen kommen nochmal 40 bis 50 Leichen rein, schauen sie sich dann die mal an“, werden sie laut eigener Aussage von einem Polizeibeamten abgespeist.

Am 29. Mai, zwei Tage nach dem letzten Lebenszeichen, setzt besagter Twitter-Account eine weitere Nachricht ab. Külter, „der vor laufenden Kameras Autonomieforderungen gestellt hat“, sei „jetzt in der Hölle“. Auch dieser Tweet wird nach kurzer Zeit wieder gelöscht. Was davon zu halten ist, kann und will Külters Familie niemand sagen, am allerwenigsten die staatlichen Stellen. Staatsanwaltschaft, Polizei und Verwaltung zumindest behaupten weiterhin, Külter sei nicht verhaftet worden – trotz der gegenteiligen Zeugenaussagen.

Opposition und Zivilgesellschaft beginnen, sich des Falles anzunehmen

Am 3. Juni wendet sich die Familie deshalb mithilfe des Menschenrechtsvereins İHD und eines Juristenverbands erneut an die Polizeidirektion. Die Antwort: Herauszufinden, wo er ist, „fällt nicht in unseren Aufgabenbereich“. Külters Angehörige sind frustriert: „Wir haben uns an alle offiziellen Stellen gewandt und nach meinem Bruder gefragt, aber keine einzige Antwort erhalten“, sagt Bruder Mustafa. Immerhin hat Verteidigungsminister Fikri Işık mittlerweile angekündigt, dass das Innenministerium Ermittlungen in dem Fall aufnehmen werde, Ergebnisse gibt es aber freilich noch nicht.

Stattdessen nehmen sich nun Politik und Zivilgesellschaft des Falles an und versuchen, entgegen der Ignoranz des Staates und regierungstreuer Medien (außer Cumhuriyet sowie mehreren kleinen linken und kurdischen Medien berichtet kaum jemand über den Fall), ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen. Auf Change.org gibt es unter dem Titel „Wo ist Hurşit Külter?“ eine Petition an das Innenministerium, in der die Aufklärung des Falles gefordert wird. Fast 17 000 Menschen haben sie bereits unterschrieben. Und auch die Oppositionsparteien HDP und CHP versuchen, der Familie Külter öffentlich eine Stimme zu geben. Am Dienstag organisierte die HDP im als liberal geltenden Istanbuler Stadtteil Cihangir eine kleine Demonstration für den Vermissten. Auch die CHP-Politiker Mahmut Tanal, Selina Doğan und Zeynep Altıok machten bereits mit Forderungen nach Aufklärung und Anschuldigungen an die Regierung auf den Fall aufmerksam.

Ob all das – abgesehen von der verdienten Aufmerksamkeit – etwas an der Sache ändern wird, ist zu bezweifeln. Hoffnung, dass Hurşit Külter noch lebt, äußern nur wenige. Einer davon ist Vater Hamdi, der sich weigert, die Hoffnung aufzugeben, dass er seinen Sohn eines Tages wiedersieht: „Ich will nicht über ihn reden, als wäre er Vergangenheit“, sagt er. „Ich möchte daran glauben, dass er immer noch am Leben ist.“