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Kultur/Religion

„Werke bleiben unsterblich“: Bewegender Abschied von Yaşar Kemal in Istanbul

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Der am Wochenende nach langer Krankheit verstorbene, weltbekannte Schriftsteller Yaşar Kemal wurde am Montag auf dem Zincirlikuyu-Friedhof beigesetzt. Tausende Menschen gaben dem Autor vor der Teşvikiye-Moschee das letzte Geleit.

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Mit einer bewegenden Abschiedszeremonie nahm die Türkei am Montag in Istanbul Abschied vom beliebten Schriftsteller Yaşar Kemal, der am Samstag im Alter von 91 Jahren gestorben war. Tausende Trauernde versammelten sich zum letzten Geleit vor der Teşvikiye-Moschee. Unter ihnen waren unter anderem der frühere Präsident Abdullah Gül, der Vorsitzende der Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei; CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, der stellvertretende Vorsitzende der Halkların Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker; HDP), Selahattin Demirtaş, die Witwe des Schriftstellers, Ayşe Semiha Baban und Kemals Patenkind und Künstlerkollege Ahmet Güneştekin.

Journalist Cengiz Çandar sprach von einer „großen Lücke, physisch und geistig“, das der Tod Kemals hinterlassen habe. Dokumentarfilmer Can Dündar meinte: „Wir waren glücklich, ihn zu kennen, im selben Jahrhundert und im selben Land wie er zu leben, und wir werden mit dieser Ehre leben.“

Auch Nobelpreisträger Orhan Pamuk nahm an der Zeremonie teil, er zeigte sich tief betroffen über die Nachricht vom Tod des Schriftstellerkollegen. „In meiner Kindheit las ich seine Bücher und es war eine Ehre für mich, als Erwachsener politisch und künstlerisch sein Freund zu werden. Solange das Türkische als Sprache existiert, wird sein Werk weiterleben“, äußerte Pamuk.

Man hatte Heimaterde aus dem Dorf seiner Familie, Gökçedam in der heutigen südtürkischen Provinz Osmaniye, zur Beerdigung herangeschafft, als man Kemals Leichnam auf dem Zincirlikuyu-Friedhof neben seiner 2001 verstorbenen ersten Frau Tilda Kemal beerdigte, mit welcher er 50 Jahre lang verheiratet war. Die Gedenkzeremonie fand im Lütfi Kırdar Versammlungs- und Ausstellungszentrum statt, wo Kemals Freunde und Verwandte über sein Leben erzählten, eine Dokumentation darüber sendeten und aus seinen Novellen vorlasen. Gleichzeitig fand in Gökçedam, wo immer noch viele Verwandte Kemals leben, ein Totengebet statt.

Davutoğlu würdigte „unsterbliche Werke“ von Yaşar Kemal

Mit dem Roman „Memed mein Falke“ wurde Yaşar Kemal weltweit bekannt. „Ich glaube tief an die Magie der Sprache“, lautete sein Credo. „Noch immer bin ich davon überzeugt, dass die Sprache neue Universen erschaffen, andere vernichten kann.“

Aus dieser Macht der Sprache leitete Kemal die Verantwortung der Schriftsteller in der Gesellschaft ab. Eine Rolle, die er selbst sehr ernst nahm: Widerstand gegen empfundenes Unrecht und der Kampf für Freiheit und Menschenrechte ziehen sich als roter Faden durch das Werk des Schriftstellers. Nach längerer schwerer Krankheit ist Kemal am Samstag an Organversagen gestorben.

In der Türkei nannte man ihn nur „usta“ – den Meister. „Die Türkei hat ihren größten Romancier, ihren liebsten Schriftsteller verloren“, schrieb der Journalist Cem Erciye am Sonntag in der Onlinezeitung „Radikal“. Der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu würdigte Kemal als wertvollen Schriftsteller, der „unsterbliche Werke“ für die Weltliteratur geschaffen habe.

Mit seinem 1955 veröffentlichten Roman „Ince Memed“ (Memed mein Falke) wurde Kemal zum meistgelesenen Schriftsteller der Türkei und erlangte weltweiten Ruhm. Der Romanheld, der „schmächtige Memed“, lehnt sich darin gegen die Herrschaft der Großgrundbesitzer auf und zieht als Bandit in die Berge.

Kemal kam im südanatolischen Dorf Gökçedam (früher: Hemite) in der Provinz Osmaniye als Sohn eines früheren Großgrundbesitzers auf die Welt. Sein genaues Geburtsdatum ist unklar. Der Schriftsteller sagt, er sei wahrscheinlich 1923 geboren worden. Gewürdigt wurde er stets zum 6. Oktober – dem Tag, an dem ihn sein Vater offiziell bei den Behörden angemeldet haben soll.

Als Kind den Mord an seinem Vater mitangesehen

Seine Eltern waren 1915 aus Ostanatolien vor der russischen Besatzung geflohen und hatten sich schließlich in der Çukurova-Ebene niedergelassen. Als Kind verliert Kemal bei einem Unfall ein Auge. Mit viereinhalb Jahren musste er mit ansehen, wie sein Adoptivbruder seinen Vater in einer Moschee erstach.

Kemal wird schwer traumatisiert. Über die Zeit schreibt er: „Von da an begann ich zu stottern. Nur wenn ich sang, kamen mir die Worte widerstandslos über die Lippen.“ Seine Gesänge brachten ihm die Spitznamen „Kemal den Barden“ ein. Mit etwa elf Jahren lernte Kemal als einziges Kind im Dorf Lesen und Schreiben und überwand seine Sprachstörung. Er arbeitete als Straßenschreiber und verfasste Briefe, Bittschriften und Dokumente.

1951 erschienen seine ersten Erzählungen in der linksnationalistischen Zeitung „Cumhuriyet“ in Istanbul. Er arbeitete zwölf Jahre lang als Journalist – schrieb über Armut, Hunger, Dürre und Ausbeutung.

Insgesamt war Kemal dreimal im Gefängnis. Unter anderem wurde der Schriftsteller 1971 wegen seiner Arbeit für die marxistische Türkische Arbeiterpartei von der damaligen Militärregierung inhaftiert. Da viele Schriftsteller seiner Generation in Haft saßen, bezeichnete Kemal das Gefängnis als „Schule der türkischen Gegenwartsliteratur“.

Den nationalistischen Kräften ein Dorn im Auge

Kemal, selbst Kurde, hat die Kurden-Politik seines Landes immer wieder kritisiert. Im Jahr 1996 wurde er wegen „Volksverhetzung“ zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten auf Bewährung verurteilt. Weil er Mordanschläge von Rechtsradikalen fürchtete, lebte er zeitweise in Schweden, bevor er nach Istanbul zurückkehrte.

Sein letzter Roman mit dem Titel „Tek Kanatlı Bir Kuş“ („Vogel mit nur einem Flügel“) erschien im September 2013. Darin beschäftigt sich Kemal mit der Angst, die die Gesellschaft vergiftet.

Kemal wurde mit vielen internationalen Literaturpreisen ausgezeichnet und 1972 als erster türkischer Schriftsteller für den Literaturnobelpreis nominiert. Günter Grass sagte 1997 in seiner Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Kemal: „In Yaşar Kemals Büchern ist die Darstellung des Rassenwahns als Ausdruck offizieller Regierungspolitik kenntlich. Deshalb ist der Autor den Herrschenden lästig.“ (dpa/dtj)