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Kolumnen

Zeit für die muslimische Welt, in den Spiegel zu schauen

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Syrien und Ägypten führen schmerzvoll vor, wie weit die muslimische Welt davon entfernt ist, Konflikte in Eigenverantwortung zu lösen. Es fehlt an Solidarität und Autoritäten, die über Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg Gehör finden. (Foto: reuters)

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George W. Bush mit arabischen Monarchen und Husni Mubarak.
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Hiram Warren Johnson, ein amerikanischer Politiker aus dem vergangenen Jahrhundert, wird mit dem Satz zitiert: „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“. Und nun herrscht Krieg auf allen Ebenen: Bürgerkrieg in Syrien und Ägypten, Krieg über die Deutungshoheit in den Medien darüber, worum es in den Konflikten geht und Machtkampf zwischen globalen Akteuren um Einfluss und Ressourcen. Ressourcen wie z.B. Erdöl, die für westliche Gesellschaften unersetzbar sind.

Darunter leiden die Wahrheit und die Fähigkeit, Selbstkritik zu üben oder Ausschau nach eigenen Fehlern zu halten. Es ist nur allzu einfach, alle Verantwortung und Schuld auf Feindbilder zu projizieren und sich selbst als Opfer politischer Intrigen zu sehen: „Islamisten und Terroristen“ auf der einen, „Imperialisten und Kreuzzügler“ auf der anderen Seite. Wie treffend sagte es doch der Ex-US-Präsident George W. Bush in seiner vielbeachteten Rede vor dem Kongress nach den Anschlägen vom 11. September 2001: „Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für den Terrorismus.“

Schwarz und Weiß, Gut und Böse, Tag und Nacht und nichts dazwischen?

Der türkische Nationaldichter Mehmet Akif Ersoy erlebte den Balkankrieg, den Dardanellenkrieg, die Besatzung Istanbuls durch die Engländer und schließlich den Unabhängigkeitskrieg. In seinen Gedichten klagt der leidvolle Dichter über die Machtlosigkeit, Verzweiflung und Zerstrittenheit der muslimischen Welt. Ersoy verstarb nach langjährigem Exil in Ägypten am 27. Dezember 1936 in Istanbul.

Den damaligen Zustand der Muslime beklagte Ersoy mit den Zeilen:

Muslim sein? Wir sind gar weit weg von jeglicher Menschlichkeit.

Wollen wir betrügen die ganze Welt? So ist doch keiner da, der sich betrügen lässt.

Wie viele wahre Muslime ich auch gesehen hab, liegen sie alle unter der Erde.

Ich weiß es nicht genau, jedoch ist das Muslimsein wahrscheinlich im Himmel.

Obwohl seither fast 100 Jahre vergangen sind, hat sich am Zustand der muslimischen Welt kaum etwas geändert: Überall fließt das Blut unschuldiger Menschen. Syrien und jetzt auch Ägypten führen schmerzvoll vor, wie weit die muslimische Welt davon entfernt ist, eigene Konflikte in Eigenverantwortung zu lösen. Es fehlt an Solidarität, Bereitschaft zur Zusammenarbeit, Konsensdenken und an Autoritäten, die über Landes- und Konfessionsgrenzen hinweg Gehör finden.

Mittlerweile ist das Chaos hausgemacht

Vor 100 Jahren waren es fremde Mächte, imperialistische Feinde aus einer anderen Glaubenswelt, die besetzt, gemordet und muslimische Länder ausgeplündert haben. Heute sind es „muslimische“ Unrechtsstaaten und ihre Herrscher selbst, die morden und massakrieren. Was hätte wohl Ersoy über diesen Zustand geschrieben? Auch wenn es einem nicht bewusst ist: Wer mit dem Zeigefinger auf andere zeigt, zeigt mit wenigstens drei Fingern auf sich selbst.

Warum gelingt es einflussreichen Akteuren in der muslimischen Welt, wie z.B. der Muslimbruderschaft, nicht, politische Machtspiele durchzuschauen und kluge Strategien zu entwickeln, die z.B. auch die Zustimmung von ägyptischen Kopten finden?  Warum kann man nicht nach politischen Lösungen suchen und auf Diplomatie setzen, bevor man Massen auf die Straßen treibt und Tote in Kauf nimmt?

Warum verhilft man einem Diktator namens Al-Sisi in eine Machtposition, von der aus er putschen und morden kann? Warum übernimmt man die Regierungsverantwortung, obwohl man doch genau weiß, dass man den einflussreichen alten Eliten in Bürokratie, Medien und Wirtschaft auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist?  Eliten, die nur auf die Gelegenheit gewartet haben, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit gnadenlos zuzuschlagen.

Vor zwei Jahren begann in der arabischen Welt der sogenannte „Arabische Frühling“, verbunden mit einer weltweiten Hoffnung auf mehr Demokratie und Menschenrechte. Heute ist nicht nur die Hoffnung verflogen, sondern es sind neue, früher als unmöglich geltende Koalitionen entstanden. De facto befinden sich die USA, Israel und die arabischen Monarchien auf der gleichen Seite. Die von den Saudis unterstützten Salafisten haben den Putsch genauso wie die Kopten unterstützt. Gerade diese Tatsache zeigt, dass es sich nicht um einen religiösen Konflikt handelt, sondern um einen politischen Machtkampf.