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Zeit für Erneuerung

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Leben heißt stetige Erneuerung. Dr. Mustafa S. Kurşunoğlu meint, dass sich die Menschheit kollektiv erneuern muss, um in der Zukunft bestehen zu können. Der Religion schreibt er dabei einen besonderen Wert zu. (Foto: dpa)

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Zeit für Erneuerung
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Soweit wir zurückdenken können, stellt unsere ganze Vergangenheit, vom ersten Auftreten des Menschen in der Natur über die Gründung eines Sozialwesens mit eigener Geschichte bis zur Agrargesellschaft, vom Industriezeitalter bis zum Klassensystem, von der Aristokratie zur Demokratie, eine Entwicklung dar, die auf Erneuerung basiert. Die Stoßrichtung der Erneuerung zeigten uns während dieses Prozesses stets unsere Ziele, die an unsere Wünsche und Bedürfnisse gekoppelt waren. Die klarste Linie, welcher der Mensch folgt, ist die der Selbsterneuerung gemäß den Anforderungen der jeweiligen Epoche. Den Ausgangspunkt bildet die Konfrontation mit den Problemen und Mängeln, die in der kollektiven Wahrnehmung des Lebensprozesses zutage treten, dessen Grenzen durch die physische Umwelt im Zusammenspiel mit den sozialen Bedingungen aufgezeichnet werden. Mit der ersten Umsetzung einer Lösung beginnt die Entwicklung.

Mittlerweile sind wir in einem neuen Jahrtausend angekommen. Das technologische und ökonomische Gewaltmonopol der vergangenen Jahrhunderte verteilt sich auf neue Gravitationszentren, deren soziokultureller Einfluss sich in den individuellen und gesellschaftlichen Entscheidungen und Vorlieben offenbart. Von der Uneindeutigkeit wirtschaftlicher Daten bis zur Unbestimmtheit der Moralvorstellungen erwartet uns eine Flut von Unüberschaubarkeiten. Unser Hauptproblem dabei ist die Frage, wie wir in der Überschneidung verschiedener soziokultureller und politisch-ökonomischer Komponenten als gesamte Menschheit zur Erneuerung finden und unsere Entwicklung entlang der Zukunftslinie weiterverfolgen können.

Erneuerung – als gesamte Menschheit

Waren die beiden großen Kriege zu Beginn und in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts nicht ebensolche Zusammentreffen unterschiedlicher Komponenten, die aus derselben Wurzel stammten? Müssen wir dann wohl als Resultat der neuen multizentrischen und auf verschiedene historische Wurzeln zurückgehenden Überschneidungen mit einer noch viel schlimmeren Katastrophe rechnen? Der wissenschaftliche und technologische Fortschritt öffnet uns ein hoffnungsvolles Tor zur Zukunft und zeigt uns, dass das Problem hinter der ständigen Erhöhung unseres Budgets zur Produktion von Waffen eigentlich in unserer seit mehr als einhundert Jahren andauernden Unfähigkeit liegt, uns als Menschheit selbst zu erneuern.

Die ersten acht Jahre unseres neuen Jahrtausends bewegten sich zwischen Francis Fukuyamas Thesen, der mit dem Triumph von freier Marktwirtschaft und liberalen Werten das Ende der Geschichte gekommen sah, und Huntingtons Modell vom Kampf der Kulturen auf der Basis verschiedener Religionen. Was Westeuropa angeht, so tritt hier mit dem säkularen Gesellschaftsverständnis sofort die starke Betonung des Individualismus in den Vordergrund. In gewisser Weise scheint daher die westliche Welt für sich selbst das Ende der Geschichte erreicht zu haben. Ein Blick auf den afrikanischen Kontinent zeigt dagegen vielerorts Konfliktbereiche, in denen vor allem rassische und kulturelle Unterschiede hervorgehoben werden. Die politischen und militärischen Interventionen schließlich, die mit dem Ziel erfolgten, der sich zusehends globalisierenden Welt im Namen von Demokratie und Liberalismus eine Richtung vorzugeben, haben die Geschichte für uns alle wieder in Unbestimmtheit gestürzt.

Unser festes und statisches Modell von Gesellschaft und Individuum löst sich durch den vielseitigen Druck der Globalisierung und ihrer zahlreichen Akteure auf. Ganz wie in dem berühmten Experiment mit der schrödingerschen Katze, bei dem aus der gleichzeitigen Reflexion und Ausstrahlung eines Photons durch den Mechanismus eine Quantenwahrscheinlichkeit entsteht, kommt es heute zu einer Situation der Synchronie zwischen Individuum und Gesellschaft. Das Selbstgefühl und die Unabhängigkeit des Einzelnen in seiner eigenen Welt überdecken sich gleichzeitig mit seiner Stellung als Individuum innerhalb einer Gemeinschaft und als Teil dieser Gemeinschaft. Es gibt eine wirkliche Synchronie zwischen der Entwicklung oder Erneuerung des Menschen und der durch ihn gebildeten Gesellschaft. Man kann sagen, dass sich das Individuum erneuert, wenn sich die Gesellschaft weiterentwickelt; entwickelt sich umgekehrt das Individuum, so erneuert sich die Gesellschaft. Auf diese Weise ergänzen sich beide gegenseitig. Wenn die vorherigen abstrakten Referenzen des sozialen Bandes verschwinden, wendet sich das Individuum ab und festigt dadurch seine eigene Existenz. Die Stärkung des Individuums aber führt gleichzeitig auch zu einer starken Gesellschaft.

Wertewandel als Indikator für gesellschaftliche Veränderungsprozesse

Das Gebiet, auf dem sich diese synchronen Veränderungsprozesse am besten beobachten lassen, ist ohne jeden Zweifel das der Werte. Einer von 1981 bis 2006 in verschiedenen Ländern durchgeführten Studie des World Values Survey (Prof. C. Welzel: A Human Development View on Value Change, http://www.worldvaluessurvey.org/) zufolge sind die Menschen auf der Suche nach Möglichkeiten, sich jenseits ihrer Gemeinschaften und alltäglichen Handlungen auszudrücken. Demnach nehmen in stark säkular-rational geprägten Gesellschaften die Betonung von Religiosität und Patriotismus, die Achtung vor Autoritäten, die Erziehung zum Gehorsam und die Bedeutung traditioneller Familienwerte ab, während gleichzeitig die Betonung ziviler und politischer Freiheit, die Ausübung und Unterstützung öffentlicher Meinungsäußerung, die Toleranz gegenüber Nonkonformität, das Gefühl der Selbstbestimmung und die Suche nach menschlichem Vertrauen zunehmen. Ganz im Gegensatz dazu ist der Prozess des Ausdrucks des individuellen Selbst in schwach säkularen Gesellschaften gestört.

Das Maß an Säkularität und Rationalität einer Gesellschaft hängt von dem in ihr vertretenen Maß an Individualität ab, und zwar solcher Individualität, die zu einem starken Ausdruck ihrer selbst fähig ist. Wird die individuelle Ausdrucksmöglichkeit beschränkt, so ist die Gesellschaft entsprechend schwach säkular. Ist eine Gesellschaft aber bezüglich ihrer Säkularität schwach, so schlägt sich diese Schwäche gleichzeitig auch unvermeidlich in den individuellen Persönlichkeiten nieder. Der neue Wert, der sich hier herauskristallisiert, ist die individuelle menschliche Entscheidungsfreiheit in allen Angelegenheiten. Der Studie zufolge legt diese als postmaterialistisches Freiheitsstreben charakterisierte, neu entstehende Form des individuellen Ausdrucks größere Betonung auf die Demokratie, indem sie die tatsächliche politische Situation kritisiert. Auf diese Weise bildet sie letztendlich einen demokratischen Reformprozess, der verstärkt auf den Menschen konzentriert ist.

Wenn der gesellschaftliche Demokratie-Prozess sich angesichts dieser starken Form des individuellen Ausdrucks nicht erneuern kann, so wird er schnell veralten. Dabei hätten wir eine solche soziale Regenerierung im rasch zunehmenden Individualismus wieder einmal nötig. Das politische Gesicht der Erneuerung bilden heute der Wunsch nach einer liberalen und freiheitsbetonenden Politik und das Aufeinanderprallen unterschiedlicher politischer Interessen. Im globalen Jahrhundert haben die Institutionen der menschlichen Gesellschaft sich noch nicht erneuern können, doch sie beginnen, ihre Funktion zu verlieren und sich aufzulösen. Die Individualität dagegen, die verhältnismäßig frei geblieben ist, hat sich einem Erneuerungsprozess unterzogen. Im Osten wie im Westen wurde sie durch zahlreiche globale Einflüsse wirtschaftlicher, politischer, religiöser, geistiger, kultureller und rein äußerlicher Art dazu gedrängt, ihre wichtigsten Grundlagen zu sichern und zu erneuern.

Religion von innen heraus

Die oben zitierte Studie beobachtete einen Prozess, der seit den 1980er Jahren andauerte. Wenn wir hiermit nun eine andere Meinungsumfrage, Voice of the People 2006 von Gallup International (http://www.gallup-international.com), vergleichen, so erhalten wir einige Daten, die uns unsere augenblickliche Lage deutlicher erkennen lassen: Dieser Studie zufolge ist der Anteil der Religiosität weltweit nämlich in Afrika am höchsten, während er sich in Europa und Ostasien am weitesten zurückgebildet hat. Wie aus der ersten Studie hervorgeht, hat die Bedeutung des Glaubens allerdings im persönlichen Leben nicht nachgelassen, auch wenn er gesellschaftlich gesehen keinen hohen Stellenwert besitzt.

Zwei Drittel der Befragten bezeichneten sich selbst als „religiös“, auch wenn sie nicht regelmäßig eine Gebetsstätte besuchten. Wenn sich auch die zum Thema Religiosität gestellten Fragen im Allgemeinen auf den Monotheismus bezogen, so tritt uns auch bei der Betrachtung des Glaubens an unpersönliche Kräfte oder natur-mystizistischer Überzeugungen wie dem Glauben an die Kraft des Lebens eine Religiosität entgegen, die sich von innen heraus entwickelt und das Leben des Menschen im vollen Wortsinn individuell bestimmt. Als Folge der Auflösung ihrer Gesellschaft angesichts der Globalisierung sucht die Religiosität nun anstelle einer sozial extrovertierten Position eher eine Ansiedlung auf der individuellen Ebene, wo der Glaube gefestigter ist.

In den Gesellschaften der Vergangenheit war die Religiosität des Individuums für gewöhnlich an Ziele wie den Patriotismus oder heilige Gesellschaftsideale geknüpft. Durch die wirtschaftliche und technologische Globalisierung ist diese Sozialstruktur nun in Auflösung begriffen. Wie jedoch am Beispiel Afrikas deutlich wird, können Angriffe von außen die Globalisierung einer Gesellschaft aufhalten und sie ihrer Flexibilität berauben. Auf diese Weise spielt das Herausstellen und Erleben von Religiosität als ein Wert ihrer Gesellschaft den radikalen Tendenzen in die Hände. Huntingtons Auffassung vom Kampf der Kulturen verhindert daher die auf natürlichen Wegen voranschreitende Erneuerung der menschlichen Zivilisation.

Der Grund dieses Vergleiches ist, dass die Individualität, die sich in stark säkularen Gesellschaften in Form eines ausgeprägten individuellen Ausdrucks entwickelt hat, auch die Suche nach einer ihr eigenen Religiosität mit sich bringt. Während die Zahl derjenigen, die der theistischen Sichtweise einen strikt atheistischen Glauben entgegensetzen, immer kleiner wird, lässt sich gleichzeitig ein verstärktes Auftreten verschiedenster vom Theismus mehr oder weniger weit entfernter Glaubens- und Denkrichtungen beobachten. Ohne Zweifel spielt das chaotische Umfeld unserer heutigen Welt, in der religiöse und kulturelle Überzeugungen immer wieder miteinander in Konflikt treten, eine bedeutende Rolle bei der Ausbildung individueller religiöser Orientierung. Immer mehr Menschen erwarten anstelle der ständig widerstreitenden Einstellungen, die der Menschheit Schmerz und Probleme bereiten, eine religiöse Reinigung, die ihnen in der Praxis Frieden bringt und von der sie rationell profitieren können.

Erneuerung heißt nicht zwangsweise Verbesserung – Glaube als Anker der Menschlichkeit

Der Wandel der Religiosität zeigt uns auch, wie weit die Suche nach Erneuerung vorangeschritten ist. Erneuerung ist ein Bedürfnis der menschlichen Natur. Um es zu erfüllen, versucht der Mensch zuerst einmal, den Glauben zu erneuern.

Schlussendlich bilden die erste Stufe zum Anpacken unserer Probleme und zum Beginn der Erneuerung zweifellos ein Glaube und eine Religion, die sowohl über eine starke individuelle Bindung als auch über großen gesellschaftlichen Einfluss verfügen. Es ist für uns von großer Bedeutung, dass die Religionen sich im Rahmen ihrer eigenen Institutionen und Regeln aus dem Bann der kulturellen Bereiche ihrer Gesellschaften befreien, sich auf die menschlichen und individuellen Ursprünge in der Persönlichkeit ihrer ersten Vertreter besinnen und diesen individuellen Ursprung erneuern können. Wir selbst müssen imstande sein, unseren Glauben in unserem eigenen, individuellen Ich zu erneuern und seine menschlichen Wurzeln und seinen natürlichen Widerschein im Universum zu finden. Erst wenn wir das getan haben, werden wir einen wahrhaft individuellen Glauben besitzen können.

Auf diese Weise könnten auch die menschlichen Werte wie Güte, Gerechtigkeit, Wahrheit und Schönheit, die im Wesen jeder Religion vorhanden sind und von deren ersten starken individuellen Repräsentanten gelebt wurden, als Individualität zutage treten. In der synchronen Gesellschaft einer solchermaßen starken Individualität kann man wirklich von Frieden, Liebe, Gerechtigkeit und Güte sprechen. Wir alle sehen, dass kollektive Überzeugungen und Ansichten mit der Erneuerung ernste Schwierigkeiten haben. Aus diesem Grund können sich in eine solche Religiosität auch negative Werte wie Vorurteile und Hass einschleichen. In einem solchen Fall muss unser Glaube nicht in seinen Ritualen und Zeremonien erneuert werden, sondern in unserer Individualität, und seine Ursprünge sind in unserer eigenen Menschlichkeit zu suchen.

* Dieser Artikel erschien 2008 in der Zeitschrift „Zukunft”.