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Gesellschaft

Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien: „Sozialer Sprengstoff“

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Im Interview mit dem DTJ spricht NRW-Sozialminister Guntram Schneider (SPD) über die Folgen der Armutswanderung ins Ruhrgebiet und Rückschläge bei der Integrationspolitik. (Foto: reuters)

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Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien: „Sozialer Sprengstoff“
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Herr Minister Schneider, ist die zunehmende Armutswanderung von Bulgaren und Rumänen in die Großstädte an Rhein und Ruhr den Sozial- und Integrationspolitikern aus dem Ruder gelaufen?

Seit Bulgarien und Rumänien zur EU gehören, ist die Zahl der nach Nordrhein-Westfalen eingewanderten Menschen aus beiden Ländern gewachsen. Man kann sicher nicht generell davon reden, dass die Zuwanderung aus den beiden Ländern aus dem Ruder gelaufen ist. Allerdings wurden bestimmte mit der Zuwanderung verbundene Phänomene kaum berücksichtigt. Heute darf man den Blick nicht davor verschließen, dass in manchen Quartieren nordrhein-westfälischer Großstädte die Konzentration sogenannter Armutszuwanderer eine Größenordnung erreicht hat, die droht, das soziale Gefüge zu sprengen.

Zuletzt haben Sie im Landtag davor gewarnt, die explosive Lage in den Kommunen mit dem Mantel des Schweigens zu verdecken. Befürchten Sie aufgrund der Flüchtlingsbewegung soziale Unruhen in Deutschland?

Bürgerinnen und Bürger der EU nehmen ihr verbrieftes Recht auf Freizügigkeit wahr. Die Konzentration sogenannter Armutsflüchtlinge in bestimmten Stadtquartieren sorgt für sozialen Sprengstoff. Ich mahne deshalb alle Beteiligten dazu, die entstandenen Probleme nicht zu verdrängen, sondern sie konkret zu benennen und ihre Bewältigung im Sinne einer gesamtstaatlichen Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen in Angriff zu nehmen. In vielen Kommunen hat die Zivilgesellschaft über unterschiedlichste, sehr kreative Aktivitäten die Bewältigung sozialer Probleme selbst in die Hand genommen. Diese Entwicklung zeigt: Unsere Zivilgesellschaft lebt und ist aktiv, wenn es darauf ankommt.

Die Kommunen klagen über Probleme bei der Gesundheitsvorsorge, Mietwucher, Schwarzarbeit und fehlende Qualifizierungsmöglichkeiten für die zugewanderten Menschen. Offenbar lassen Bund und Land die überforderten Städte eiskalt im Stich.

In 2012 sind insgesamt mehr als 28.000 Menschen aus Bulgarien und Rumänien neu eingewandert, aber auch etwa 17.300 wieder ausgewandert. Damit lebten Ende vergangen Jahres insgesamt 59.500 Menschen aus Bulgarien und Rumänien in Nordrhein-Westfalen. Die Kommunen haben Anspruch auf Unterstützung. Die Landesregierung lässt die Städte definitiv nicht im Stich. Wir helfen im Rahmen unserer Möglichkeiten. Auch in den Bereichen der gesundheitlichen und schulischen Versorgung unterstützen wir eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen. Demgegenüber redet die Bundesregierung das Problem klein und ignoriert die eigene Verantwortung. Wir fordern vom Bund ein Sofortprogramm für die betroffenen Städte und Gemeinden. Wir fordern die Intervention des Bundes bei der EU, um endlich für benachteiligte Bevölkerungsgruppen in Rumänien und Bulgarien die Lebensbedingungen zu verbessern.

Die Dortmunder Sozialdezernentin Birgit Zoerner sieht für die Zuwanderer auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance, weil vielen eine berufliche Qualifikation fehle und die Analphabeten-Quote sehr hoch sei. Wie wollen Sie diese Menschen integrieren?

In der Tat ist es sehr schwierig, Menschen ohne berufliche Grundkenntnisse in einer modernen Industriegesellschaft, die auch immer mehr Wissensgesellschaft wird, auf dem ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Es fehlen auch sehr oft soziale Verhaltensweisen, die in einem Wirtschaftsunternehmen erforderlich sind, um einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Viele dieser Menschen verdingen sich auf dem sogenannten „Arbeitsstrich“, weil sie keine andere Arbeitsmöglichkeit sehen. Dies zeigt, der Wille und auch die Fähigkeit zur Bewältigung meistens einfacher Tätigkeiten sind durchaus vorhanden. Der „Arbeitsstrich“ führt allerdings dazu, dass Menschen zu Einkommen zwischen zwei und vier Euro schwerste körperliche Arbeit leisten. Neben völlig überhöhten Mieten für schlechten Wohnraum ist der „Arbeitsstrich“ ein weiteres Beispiel für die wirtschaftliche Ausbeutung von Menschen, die aufgrund ihrer Not in den ursprünglichen Heimatländern zu uns gekommen sind.

Sie selbst haben gefordert, dass die Zeit des Philosophierens und Probleme-Beschreibens jetzt endlich vorbei sein müsse. Sozialarbeiter sind regelrecht erschrocken mit wie wenig Wissen die Armutsflüchtlinge nach Deutschland kommen. Offenkundig ist es Teilen der Zuwanderer sehr schwer zu vermitteln, dass die Antibabypille täglich genommen werden muss und andere Medikamente auch noch nach Abklingen der Beschwerden. Die Politik scheint diesen Problemen einigermaßen ratlos gegenüber zu stehen. Für diesen Monat hatten Sie ursprünglich ein Hilfsprogramm der rot-grünen Landesregierung angekündigt.

Ja, es gibt einen bisher kaum gekannten Informations-, Lern- und Unterstützungsbedarf. Wir wollen diesem Bedarf über vielfältige Informations- und Beratungsangebote entsprechen. Die Strukturen hierfür sind schon jetzt vorhanden. Denken wir nur an die kommunalen Integrationszentren und an die vielen Integrationseinrichtungen bei freien Trägern. Und in der Tat: Neben Qualifizierungsdefiziten gibt es auch bei vielen Zuwanderern Defizite des Umgangs mit der „modernen Welt“. Im Übrigen steht das Förderprogramm des Landes in seinen Grundzügen. Das Kabinett hat allerdings noch keinen endgültigen Beschluss gefasst. Wir werden unser Förderprogramm in den nächsten Wochen mit allen betroffenen Kommunen diskutieren und mit der Arbeit beginnen.

CDU-Oppositionsführer Karl-Josef Laumann macht sich für eine Ausweisung arbeitsloser Zuwanderer stark und hält die von SPD und Grünen betriebene Integrationspolitik für falsch verstandene Toleranz.

Der CDU-Fraktionsvorsitzende erlebt mit seinen Äußerungen einen Rückfall in die rechts-konservativ geprägten Zeiten der Union. Wenn man nicht mehr weiter weiß, ruft man allzu schnell nach ordnungspolitischen Maßnahmen. Für die Landesregierung ist klar, wenn es um die Einhaltung unserer Rechtsordnung geht, gibt es niemandem gegenüber Toleranzschwellen. Dies bezieht sich auch auf EU-Bürgerinnen und -bürger, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten. Das Gerede von der Ausweisung ist allerdings wirklich Gerede. Wer Armutswanderungen bekämpfen will, muss Armut bekämpfen. Mauern, ob physische oder juristische, sind gänzlich ungeeignet, um Menschen davon abzuhalten, über Zuwanderung ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Dies lehrt auch die deutsche Geschichte. Und im Übrigen: Von der Freizügigkeit in der EU partizipiert am meisten Deutschland. Ich kann und will die Freizügigkeit in der EU nicht in Frage stellen. Dies wäre mit dem Abbau von Freiheitsrechten verbunden. Bevor Herr Laumann weiterhin dummes Zeug redet, sollte er sich von seiner Parteifreundin Rita Süssmuth sachkundig machen lassen.

Aber die ab 2014 in der EU geltende Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien kommt aufgrund der Probleme in deren Heimatländern doch offenkundig viel zu früh. Die Bundesregierung hat den umstrittenen Beitritt dieser Länder mitbeschlossen und die Kommunen sollen jetzt dafür zahlen.

Es ist müßig jetzt darüber zu diskutieren, ob die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu früh verabredet worden ist. Dies ist mehr eine akademische Frage. Jetzt kommt es darauf an mit dieser Freizügigkeit humanitär und sozial umzugehen. Die Bundesregierung ist auf die am 1. Januar kommenden Jahres einsetzende Freizügigkeit schlecht vorbereitet. Sie ist in dieser Frage weder einsichtig noch bereit nachzubessern. Sie überlässt die Folgen der Arbeitnehmerfreizügigkeit einseitig den betroffenen Kommunen und den Bundesländern. Wir wissen nicht, wie viele Menschen von der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch machen werden. Es hat jetzt keinen Sinn, Horrorzahlen in die Welt zu setzen. Wir müssen uns allerdings sozialpolitisch auf eine zunehmende Zuwanderung vorbereiten.

Muss nicht endlich der Rassismus gegen Minderheiten wie Sinti und Roma in den EU-Ländern Osteuropas bekämpft werden, um das
Übel an der Wurzel zu packen und Fluchtursachen zu beseitigen?

Niemand verlässt gerne seine Heimat. Wenn man die Ursachen der Armutswanderung bekämpfen will, muss man nicht nur die Armut in den betroffenen Ländern, sondern auch die soziale Deklassierung und gesellschaftliche Diskriminierung ganzer Bevölkerungsgruppen wirksam bekämpfen. Die Europäische Union hat für diese Aufgabe die notwendigen Finanzmittel bereitzustellen. Was die Roma betrifft: In Rumänien und Bulgarien wird diese Bevölkerungsgruppe seit Jahrhunderten diskriminiert. Viele positive Beispiele zeigen, dass diese Gruppe durchaus bereit ist, in funktionierende gesellschaftliche Strukturen integriert zu werden. Wenn man allerdings jeden Tag in vielfältiger Weise erfährt, dass man unerwünscht ist, und dies über viele Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, hat man wenig Schwierigkeiten, die ursprüngliche Heimat zu verlassen. Hier liegt die große Verantwortung von Ländern wie Rumänien und Bulgarien.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die zunehmende Armutswanderung nach Deutschland die Hetzkampagnen rechter Rattenfänger beflügelt und es am Ende zu spürbaren Rückschlägen bei der Integrationspolitik kommt?

Ja, die Gefahr sehe ich. Ich sehe aber auch, dass die Verantwortlichen in den Kommunen und die Bürgerinnen und Bürger enormes Engagement entwickeln, um mit der für alle Beteiligten schwierigen Situation klar zu kommen. Dies ist auch das Verdienst zum Beispiel der Freien Wohlfahrtspflege und der Strukturen, die wir nach dem Teilhabe- und Integrationsgesetz geschaffen haben. In NRW haben Nazi-Gruppierungen bisher wahlpolitisch keine Chance. Dies hängt sicher mit einer Tabuisierung bestimmter Themen, hervorgerufen durch unsere Geschichte, zusammen. Und dies ist auch gut so. In anderen Ländern haben rechtspopulistische Gruppierungen schon längst den Weg in die Parlamente angetreten und auch gefunden. Unsere gemeinsame Verantwortung liegt darin, dies in NRW auch weiterhin zu verhindern. Dies ist nur möglich, wenn wir eine Sozialpolitik betreiben, die dazu führt, dass die Gesellschaft nicht weiter auseinander driftet. Armut bedroht eher die Demokratie als manche politisch Verwirrte.