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Kolumnen

Moderne Geschichtsumdeutung im Mai 2015: Kriegsgedenken oder Tanz mit der NATO?

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Wenn mehrere geschichtliche Ereignisse auf einen Tag fallen, ist es schwer, allen gerecht zu werden und ihnen den angemessenen Rahmen zum Gedenken zu geben. Problematisch wird es allerdings, wenn die Geschichte umgedeutet wird. (Foto: dpa)

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MEINUNG Während am 8. Mai in Deutschland noch einigermaßen ein Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass an diesem Tag vor 70 Jahren der Zweite Weltkrieg endete, halten andere das Gedenken hoch, dass man von „der Befreiung vom Faschismus“ sprechen müsse. Als genau dieser Tag und als Sieg im Großen vaterländischen Krieg wird der 9. Mai in Russland und den osteuropäischen Ländern gefeiert. Durch die Zeitverschiebung fiel der Zeitpunkt der Unterzeichnung der Kapitulation spät am Abend vor 70 Jahren in Reims für Russland auf den 9. Mai – und erst am 9. Mai deutscher Zeit wurde die letzte Unterschrift in Berlin geleistet. Nicht nur die Rote Armee, auch die Bevölkerungen Osteuropas bezahlten den größten Blutzoll im Zweiten Weltkrieg.

Und nun versucht nicht nur der ukrainische Ministerpräsident Jazenuk diese Fakten umzudeuten. Bei einem seiner Besuche in Deutschland konnte er unwidersprochen behaupten, dass die aktuellen Ereignisse in der Ostukraine denen im Zweiten Weltkrieg ähnelten und man in Russland den Aggressor sehen müsste, während die ukrainischen Faschisten in Kooperation mit den Deutschen dagegen gehalten hätten. Das verkehrt die Tatsachen und klittert die Geschichte.

Einseitige Debatten um das Kriegsende

Aber insgesamt tragen die betont einseitigen Debatten um das Kriegsende, die zum Beispiel die Vergewaltigung deutscher Frauen allein schwarzen US-Amerikanern und der Roten Armee zuweisen, ihren Teil dazu bei, dass das Gedenken der Befreier vom Faschismus einen starken Westdrall erhält. Und nun setzt die Bundeswehr und mit ihr die Bundesregierung noch eins oben drauf und geht soweit, dass das Gedenken vollkommen umgedeutet werden könnte.

Zum 70. Jahrestag der Kapitulation NAZI-Deutschlands, um den es schon Streit wegen der Nichtteilnahme Angela Merkels an den Feierlichkeiten in Moskau gab, wird in diesem Jahr nicht Russland, sondern der Bundeswehr und der NATO gedacht. Man lädt zum Ball mit 5-Gänge-Menü ins Palais am Funkturm zu Berlin, um den 60. Geburtstag des Beitritts der Bundeswehr zur NATO zu feiern. Toll.

Offensichtlich ist das nötig, um den Kriegskurs fortsetzen zu können, auf dem wir uns seit nunmehr 16 Jahren befinden. Die NATO-Doktrin 1999 markiert den Wendepunkt, nachdem mit dem NATO-Krieg auf dem Balkan der Damm gebrochen war, der nach dem Zweiten Weltkrieg das Motto „Nie wieder Krieg!“ ausrufen ließ. Wie uns PR-Agenturen damals auf die Kriegsbeteiligung als „humanitäre Intervention“ eingeschworen haben, ist bei Jörg Becker und Mira Beham nachzulesen: „Operation Balkan – Werbung für Krieg und Tod“.

Christlicher Klerus als Vorbild?

Lange vor dem 9. Mai wurde der 9. November vereinnahmt und damit schleichend umgedeutet. Durch den Fehler oder Plan des DDR-Funktionärs Günter Schabowski wurde die für den 10. November durch Egon Krenz geplante Maueröffnung bereits am Abend des 9. November ausgerufen. Seither droht das Gedenken des vielfach historisch belegten 9. November – allem voran wegen des antisemitischen Pogroms 1938 – in den Jubelfeierlichkeiten zur Deutschen Einheit unterzugehen.

Vielleicht hat man hier von der Geschicklichkeit des christlichen Klerus gelernt, alte heidnische Bräuche dadurch zu bekämpfen, dass man sie übernahm und in christliche Feiertage umwandelte. Gegen den Bundeswehrball und die Geschichtsklitterung am 9. Mai macht sich der zärtlich organisierte Widerstand eher bescheiden aus. Am Vormittag sollen am Ehrenmal für die russischen Soldaten in Treptow Blumen niedergelegt werden. Und zum Krachschlagen im wahrsten Sinne des Wortes lädt die Friedenskoordination auf den Hammarskjöldplatz ein – um 18 Uhr.

Auf Medienaufmerksamkeit darf man für beides kaum hoffen, schließlich sind die meisten Vertreter unserer imaginierten Vierten Gewalt konform mit der NATO-Doktrin oder verschweigen ihren Protest.