Gesellschaft
1. Mai in Istanbul: Szenen wie aus der „alten Türkei“
Die Istanbuler Innenstadt war im Ausnahmezustand. Mit Wasserwerfern und Tränengas ging die Polizei am 1. Mai gegen Demonstranten vor, die auf den Taksim wollten. Eine Zusammenfassung der Ereignisse.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die Regierungspartei Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung; AKP) sind mit dem Versprechen mit mehr Demokratie und Ausbau von Freiheiten aus der alten kemalistischen Türkei eine Neue zu machen. Der Umgang der AKP mit den Kundgebungen zum ersten Mai zeigen erneut, dass die Regierung auf die Instrumente der alten Türkei zurückgreift. Gut einen Monat vor der Parlamentswahl in der Türkei ist es bei 1.-Mai-Demonstrationen in Istanbul zu schweren Zusammenstößen gekommen.
18 Demonstranten und 6 Polizisten seien verletzt worden, sagte Istanbuls Gouverneur Vasip Sahin am Freitagabend. 203 Menschen seien festgenommen worden. Nach Angaben der Polizei wurden am Maifeiertag mehr als 20.000 Polizisten in der Millionenmetropole eingesetzt. Tausende von ihnen riegelten den symbolträchtigen Taksim-Platz gegen Demonstranten ab. Die Polizei löste die zentrale 1.-Mai-Demonstration regierungskritischer Gewerkschaften in Istanbul mit Wasserwerfern und Tränengas auf. Aus den Reihen der Demonstranten wurden die Polizisten im Stadtteil Beşiktaş daraufhin mit Steinen beworfen. Zuvor war die Veranstaltung mit rund 1.500 Teilnehmern stundenlang friedlich verlaufen. Die Organisatoren hatten erfolglos mit der Polizei darüber verhandelt, zum abgeriegelten Taksim-Platz marschieren zu dürfen.
Auch außerhalb von Beşiktaş kam es zu Zusammenstößen. Auf Fotos der Nachrichtenagentur epa waren Randalierer zu sehen, die Steinschleudern und Molotowcocktails gegen die Polizei einsetzten. Sie errichteten Barrikaden und steckten sie in Brand.
Mehrere Gruppen und Gewerkschaften hatten dazu aufgerufen, am 1. Mai auf den symbolträchtigen Taksim-Platz vorzudringen. Seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013 hat die Polizei dort keine regierungskritischen Demonstrationen mehr zugelassen. In der Türkei wird am 7. Juni ein neues Parlament gewählt. Bei den Maidemonstrationen in Istanbul im vergangenen Jahr waren 90 Menschen verletzt und 142 festgenommen worden.
„Ihr habt noch 40 Tage. Ihr werdet verlieren“
Der 21 Jahre alte Demonstrant Onur sagte am Freitag: „Es ist sehr schlecht, dass sie den Taksim abriegeln. Sie riegeln unsere Freiheit ab.“ Demonstranten skandierten Slogans, in denen sie Erdoğan einen „Mörder“ und „Dieb“ nannten.
Erdoğan verteidigte die Sperrung des Taksim-Platzes und verwies darauf, dass die Regierung andere Orte für Demonstrationen angeboten habe. Den Demonstranten, die zum Taksim wollten, warf er vor, in Wahrheit „Chaos verursachen“ zu wollen. Die Polizei hatte den Taksim-Platz mit Metallgittern abgeriegelt. Medienberichten zufolge waren allein um den Platz herum 10.000 Polizisten eingesetzt.
Trotz des Polizeiaufgebots gelang es einer kleinen Gruppe Kommunisten, auf den Platz vorzudringen. Die Zeitung „Hürriyet“ berichtete, sie hätten sich in einem nahen Hotel versteckt gehabt. Die Polizei vertrieb sie mit Schlagstöcken, mehrere Menschen wurden festgenommen. Ein empörter Passant rief den Polizisten mit Blick auf die Wahl im Juni zu: „Ihr habt noch 40 Tage. Ihr werdet verlieren.“
Die besondere Bedeutung des Taksim-Platzes
Von der Regierung genehmigte Gewerkschaftsdelegationen legten Blumengebinde an dem Denkmal auf dem Taksim-Platz nieder. Für Gewerkschaften hat der Platz eine besondere Bedeutung. Am 1. Mai 1977 eröffneten dort Heckenschützen das Feuer auf eine Demonstration mit rund 500.000 Teilnehmern. Mindestens 34 Menschen starben. Bis heute ist unklar, wer die Täter waren. Auch in anderen türkischen Städten kam es zu 1.-Mai-Demonstrationen und vereinzelt zu Zusammenstößen.
Die 1.-Mai-Demonstrationen waren die ersten, seit im vergangenen Monat neue Sicherheitsgesetze in der Türkei in Kraft traten. Sie sehen unter anderem ein Vermummungsverbot bei Kundgebungen vor. Verstöße sollen mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden, wenn bei der Demonstration für Terrororganisationen geworben wird. Wer Molotow-Cocktails, Steinschleudern oder Feuerwerkskörper bei sich hat, kann mit bis zu vier Jahren Haft bestraft werden. (dpa/dtj)