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Politik

Bei Download Gefängnis: Warum Tausende wegen der App ByLock verhaftet werden

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Die türkische Regierung lässt Tausende Menschen verhaften, weil sie eine bestimmte App auf ihrem Smartphone haben. Mittels der Messenger-App ByLock soll der Putschversuch vom 15. Juli organisiert worden sein. Deshalb gilt jeder, der die App auf dem Handy hat, als Putschist. Einzig Beweise für ihre steilen Thesen hat die Regierung nicht.

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Korgan ist ein Bezirk der Stadt Ordu in der Türkei. Die Stadt liegt an der Schwarzmeerküste im Norden des Landes, um den Bezirk zu erreichen, muss man jedoch noch einmal rund 40 Kilometer hoch in die Berge fahren. Fern des Tumults der Großstadt leben dort um die 20 000 Menschen. Einst waren es mehr, viele gingen aber schon vor Jahrzehnten als Gastarbeiter ins Ausland oder suchten ihr Glück in Istanbul oder einer anderen Metropole der Türkei. Die, die geblieben sind, leben entweder vom Haselnussanbau oder sind als Kleinunternehmer tätig.

Einer davon ist Hakan Demir*. Als er Mitte September mit seiner Frau nach Deutschland reisen will, um Verwandte zu besuchen, wird er am Flughafen Atatürk in Istanbul festgesetzt. Die Zollbeamten beschlagnahmen die Reisepässe des Ehepaars und fordern es auf, sich innerhalb der nächsten Tage zu einem Verhör bei der Staatsanwaltschaft in Korgan zu melden. Ihnen wird die Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Demir hat jahrelang die Bildungs- und Sozialarbeit der Gülen-Bewegung unterstützt und merkt sofort, dass  auf ihn und seine Familie schwierige Zeiten zukommen. Da er nicht ausreisen darf, bleibt ihm nichts anderes übrig, als nach Korgan zu fahren, um dem Staatsanwalt Rede und Antwort zu stehen. Er wird zuerst in U-Haft genommen. Als Beweis, dass er Mitglied einer terroristischen Organisation ist, wird ihm vorgehalten, die Kommunikationsplattform ByLock genutzt zu haben.

Die AKP-Regierung in Ankara baut ihre strafrechtliche Strategie gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung auf diesen Instant-Messeging-Dienst auf, der nicht viel anders funktioniert als das viel bekanntere Whatsapp. Die Regierung behauptet, ByLock wäre als eine geheime Kommunikations-App programmiert und gezielt für die Vorbereitung des Putsches eingesetzt worden. Jeder, der den Dienst auf seinem Handy installiert hat, gilt somit als potenzieller Putschist. Die Frage, ob der Putsch tatsächlich mittels dieses Programms geplant wurde oder ob es nur für ganz legale Alltagskommunikation genutzt wurde, wird dabei gar nicht gestellt. Mehr als 2000 Menschen sitzen mittlerweile wegen Besitz des Programms im Gefängnis. Fast jeden Tage werden Razzien durchgeführt, bei denen einfache Verwaltungsbeamte, Lehrer, Armeeangehörige suspendiert oder verhaftet werden. Erst am Montag traf es 15 Arbeiter von Bezirksverwaltungen in der Provinz Izmir. Die Begründung lautet dabei immer dieselbe: Die Nutzung von ByLock.

Jedoch sind es im Gegensatz zu Darstellung der Regierung nicht nur Gülen-Anhänger, die die App heruntergeladen und genutzt haben. Insgesamt sollen über 600 000 Menschen, von denen die überwiegende Mehrheit in der Türkei lebt, das Programm auf ihrem Handy haben. Auch im Iran und in Saudi Arabien wurde es heruntergeladen – beides Länder, in denen die Gülen-Bewegung nicht oder nur mit einer Handvoll Menschen vertreten ist. Zu den Nutzern von ByLock, das man von März 2014 bis Januar 2016 sowohl für Android als auch für iPhone-Endgeräte herunterladen  konnte, sollen darüber hinaus auch 125 Parlamentsabgeordnete gehören, berichtet die Tageszeitung Cumhuriyet. Von ihnen sollen 82 der regierenden AKP, die verbliebenen 43 den Oppositionsparteien CHP, MHP und HDP angehören.

Ministerpräsident Binali Yıldırım bestreitet das vehement: „Es ist eine große Lüge“, sagte er in einer Rede vor Parteigenossen in Afyonkarahisar, „dass AKP-Abgeordnete und Minister ByLock genutzt haben sollen.“ Wer hat nun recht? Schwer belegbar, aber zumindest, dass Lügen zur politischen Strategie der AKP-Regierung gehört, ist landläufig bekannt.

Der Besitzer der Rechte an dem Dienst ist ein Amerikaner mit türkischen Wurzeln: David Keynes. In einem Interview mit der Tageszeitung Hürriyet, das für viel Wirbel sorgte, schildert er ausführlich, dass der Dienst von einem Mitglied der Gülen-Bewegung entwickelt wurde und weshalb er innerhalb kürzester Zeit Verbreitung in der Gemeinde fand. Nach Angabe von Keynes, der seine Nähe zur Gülen-Bewegung nicht verschweigt, diente ByLock tatsächlich als Kommunikationsplattform. Damit seien Bittgebete, Anekdoten und Informationen über die Repressalien und Verfolgungen von Mitgliedern der Bewegung in der Türkei innerhalb der Gemeinde verbreitet worden. Doch sagt Keynes als Betreiber der Applikation, dass der Server der App bereits Anfang des Jahres 2016 seinen Betrieb eingestellt hat. Eine Aussage, die ohne weiteres zu überprüfen wäre. Somit kann also keine Beziehung zwischen den Nutzern der Apps und der Planung des Putsches hergestellt werden.

Und Keynes hat sich nicht nur Hürriyet anvertraut, sondern auch dem Vorsitzenden des Putsch-Untersuchungsausschusses im türkischen Parlament, Reşat Peker von der AKP. Keynes rief ihn aus den  USA an und bot dem Ausschuss seine Unterstützung bei der Aufklärung der Rolle von ByLock für die Putschplanung an. Der AKP-Politiker lehnte ohne zu danken ab.

Fakten, Tatsachen und Zeugen, die den Putschversuch aufklären könnten, interessieren die AKP-Regierung anscheinend nicht. Lieber baut sie seit dem 15. Juli 2016 an einem islamistisch-nationalistischen Gründungsmythos. Darauf wollen sie die „Neue Türkei“ aufbauen und nichts darf ihr Narrativ ins Wanken bringen. Eine Türkei ohne Rechtssicherheit für Leib und Eigentum. Eine Türkei, in der jeder, der eine von der Regierung abweichende Meinung vertritt, irgendwie verschwindet – entweder ins Gefängnis gesperrt wird oder bei der ersten Gelegenheit das Land verlässt. Vorausgesetzt er oder sie hat die Mittel und Wege dazu.

Für die regierungsnahen Medien ist aus dem Kleiunternehmer Demir der „vermeintliche Koordinator für die Stadt Ordu“ geworden. Der Vater von mehreren Kindern sitzt mittlerweile im Hochsicherheitsgefängnis von Ordu. Er hat es abgelehnt als Kronzeuge auszusagen.


* Name geändert, der echte Name ist der Redaktion bekannt