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Politik

Die Rehabilitierung von Ergenekon

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Die türkische Justiz hat die Urteile im Ergenekon-Prozess für ungültig erklärt. Beobachter sehen darin die endgültige Aussöhnung Erdoğans mit den alten Eliten, die er einst erbittert bekämpft hatte.

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Ilker Basbug und Recep Tayyip Erdogan
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In Ankara hat das Berufungsgericht das Urteil im sogenannten Ergenekon-Verfahren aufgehoben. Mehr als zwei Jahre nach der Verurteilung mutmaßlicher Putschisten wurden die gegen sie verhängten Strafen damit für ungültig erklärt. Der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı (AA) zufolge gab das Gericht zur Begründung an, dass Beweise gefälscht und rechtswidrig beschafft worden seien. Laut dem Berufungsgericht habe nicht zweifelsfrei festgestellt werden können, wann die Organisation von wem gegründet wurde, wer sie angeführt habe, welche hierarchischen Strukturen es gegeben habe und welche Beteiligten sich welcher Straftat schuldig gemacht hätten. Deshalb könne man Ergenekon nicht als Terrororganisation bezeichnen, vielmehr sei die Struktur der Organisation unklar. Damit sind die 254 Verurteilten – unter ihnen  – offiziell rehabilitiert.

Die Journalistin und Juristin Buşra Erdal hat den Ergenekon-Prozess beobachtet und dazu das Buch „Ergenekon für Verwirrte“ geschrieben. Auch sie bewertet das Urteil des obersten Berufungsgerichts als Rehabilitierung der Militärs und geht der Frage nach, was jetzt kommen könnte: „Wir werden nun alle gemeinsam beobachten, wie es weiter gehen wird. Was aber als Ergebnis vor uns liegt ist, dass in der Türkei die berechtigtste Angelegenheit eine Lebensdauer von 9 Jahren hat. Die Entwicklung des Ergenekon-Prozesses hat sich mit der Entwicklung der Türkei nach der Korruptionsaffäre vom 17. und 25. Dezember (2013, Anm. d. Red.) geändert. Die neue politische Atmosphäre hat sich auch auf den Prozess ausgewirkt. In Zusammenarbeit mit denjenigen, die die Ereignisse vom 17. und 25. Dezember als Putsch bewerten, wird der Fall Ergenekon verschleiert.“ Damit meint Erdal die Zusammenarbeit des säkular-nationalistischen Ergenekon-Netzwerkes mit der religiös-konservativen AKP-Regierung um Recep Tayyip Erdoğan.

Weites Netzwerk der alten Eliten

Der Ergenekon-Prozess war ein fünf Jahre dauernder Mammutprozess mit 275 Angeklagten, unter denen sich über 100 ranghohe Militärs, aber auch Geschäftsleute, Politiker, Akademiker und Journalisten befanden, beispielsweise der ehemalige Generaloberst und Generalstabschef İlker Başbuğ (Foto links) und der nationalistische Politiker Doğu Perinçek. Nur 21 von ihnen wurden freigesprochen. Er galt als Schlag gegen die Strukturen des sogenannten Tiefen Staates in der Türkei, wurde jedoch im In- und Ausland dafür kritisiert, dass er auch zur Abrechnung mit Kritikern der AKP-Regierung missbraucht wurde, die nicht in das Netzwerk verstrickt waren.

Als Ergenekon wird ein mutmaßlicher Geheimbund bezeichnet, dessen Ziel es gewesen sein soll, die AKP-Regierung unter dem damaligen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan zu stürzen. Seinen Ausgang nahm der Prozess, als die Polizei im Juni 2007 in einem Haus im Istanbuler Stadtteil Ümraniye Granaten und Sprengstoff entdeckte. Nachdem ein Sonderstaatsanwalt Ermittlungen aufgenommen hatte, wurden mehrere Offiziere verhaftet und der Öffentlichkeit das Ergenkon-Netzwerk bekannt. Mit Fortschreiten der Ermittlungen kam es in den darauffolgenden Monaten und Jahren zu einer Verhaftungswelle und der Veröffentlichung immer weiterer Details aus dem Netzwerk.

Im Juli 2011 wurde vor der 13. Großen Strafkammer für schwere Straftaten in Istanbul Anklage erhoben. Dem Netzwerk wurde vorgeworfen, mehrere Pläne für Staatsstreiche ausgearbeitet und diese vorbereitet zu haben. Plan sei es gewesen, die innenpolitische Lage in der Türkei mittels einer Strategie der Spannung derart zu destabilisieren, dass das Militär eine Rechtfertigung hätte, erneut gegen die Regierung zu putschen (es wäre das vierte Mal gewesen) und die Macht im Land an sich zu reißen. Dazu sollen unter anderem Anschläge und Morde geplant gewesen sein, unter anderem am türkischen Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk.

In den vergangenen Jahrzehnten hatten die Militärs mehrmals geputscht und die Macht an sich gerissen, so geschehen 1960, 1971 und 1980. Am 27. April 2007 veröffentlichten sie ein sogenanntes E-Memorandum, um die Wahl eines Präsidenten zu verhindern, dessen Frau ein Kopftuch trägt. Der Präsidentschaftskandidat, um den es ging, war Abdullah Gül. Sein Berater Ahmet Sever schreibt dazu in seinen Memoiren: „Die Erklärung der Militärs war um 23.20 Uhr auf der Internetseite des Generalstabs veröffentlicht worden. Das war ein Memorandum, eine klare Botschaft an die Regierung, eine Warnung und eine Drohung.“

„Vormundschaft des Militärs durch Erdoğans Vormundschaft ersetzt“

Lange Zeit standen die Ergenekon- und Balyoz-Prozesse bei vielen Türken für die Hoffnung, dass der politische Einfluss der Militärs zurückgedrängt werden könnte. Daher waren sie nicht nur von der AKP und breiten Teilen der türkischen Öffentlichkeit, sondern auch in linken und liberalen Kreisen der türkischen Gesellschaft als Aufarbeitung der Machenschaften des Tiefen Staates betrachtet worden. Und das, obwohl diese Kreise nicht zur treuen Anhängerschaft der AKP gehörten. Doch wuchs mit fortschreitender Dauer des Prozesses auch die Kritik am Verfahren. Im Windschatten des Prozesses habe die Regierung versucht, mittels offenkundig gefälschter Beweise auch säkulare Kritiker wie die Journalisten Ahmet Şık und Nedim Şener mundtot zu machen. Im August 2013 verkündete das Istanbuler Gericht schließlich seine Entscheidung, wonach ein Großteil der Angeklagten zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, darunter auch der frühere Armeechef Ilker Başbuğ.

Bereits im März 2015 wurden er und ein Großteil der Verurteilten auf Initiative des damaligen Premierministers Recep Tayyip Erdoğan aus der Haft entlassen. Obwohl Erdoğan die Ergenekon-Verfahren von Beginn an offen politisch unterstützt hat, beschuldigte er nun die Hizmet-Bewegung des muslimischen Predigers Fethullah Gülen, hinter dem Verfahren gesteckt zu haben und gegen die Regierung zu putschen. Beobachter und Analysten beurteilen die Kehrtwende Erdoğans als Aussöhnung mit seinen ehemaligen Feinden im Militärapparat. Der linksliberale Journalist und Intellektuelle Hasan Cemal ist einer von ihnen. Er sieht wie Erdal eine Beziehung zwischen dem aktuellen Urteil und den politischen Entwicklungen nach den Korruptionsvorwürfen vom Dezember 2013: „Um die Korruptions- und Bestechungsakten zu schließen, hat Erdoğan einen Putsch gegen die Justiz verübt. Unter dem Vorwand es gebe einen Putsch der ‚Parallel-Struktur‘, woran ich nicht glaube, ist er Hand in Hand mit Ergenekon und Balyoz gegangen. Er hat anstelle der Vormundschaft der Militärs eine eigen zivile Vormundschaft – mit anderen Worten: seinen Despotismus – Schritt für Schritt etabliert.“