Einstige Hotelbesitzerin im Interview: „Antakya? Existiert so gut wie nicht mehr“

Gül Rencüs lebt und arbeitet in der Provinz Hatay. Sie ist froh, noch am Leben zu sein, ihr Hotel ist aber bei der Erdbebenkatastrophe zerstört worden, genauso wie die Apotheke ihres Mannes. Wie sie die letzten Tage und insbesondere die ersten Stunden nach den Erdstößen erlebt hat, erzählte sie DTJ-Online. DTJ: Frau Rencüs, erst einmal vielen Dank, dass Sie sich in dieser Katastrophe die Zeit nehmen, unsere Fragen zu beantworten. Das ist alles andere als selbstverständlich. Wo waren Sie, als die Erde am 6. Februar zu beben begann? Gül Rencüs: „Mein Mann, meine Kinder und ich waren zuhause in Samandağ. Wir leben dort in der Nähe der Küste. Durch das Beben wurden wir wach und sind sofort auf die Straße gegangen. Das ging alles so schnell, wir wussten nicht, wie uns geschah. Medien und eine freie Berichterstattung sind mir wichtig, besonders jetzt, daher war es für mich selbstverständlich, Ihre Anfrage anzunehmen.“ Wie geht es Ihrer Wohnung, wo leben Sie im Moment? „Sie hat dem Beben standgehalten. Wir wohnen und übernachten dort wieder, haben auch Strom und sauberes Wasser, sind aber natürlich noch mehr auf der Hut als zuvor. Es gibt immer wieder Nachbeben, die zum Glück nicht besonders heftig sind.“ Antakya gehört zu jenen Städten, in denen die Zerstörung mit am größten ist. Es hieß, dass die Rettungskräfte sehr spät eintrafen, viele nahmen Videos auf, in denen man ihnen die Verzweiflung regelrecht ablesen konnte. Wie haben Sie das vor Ort erlebt, was ist der letzte Stand? „Das stimmt, in den ersten 48 Stunden geschah – nichts. Es traf keinerlei Hilfe ein. Erst ab Mittwoch begannen die Rettungs- und Bergungsarbeiten durch AFAD. Aber insgesamt blieb und bleibt die Hilfe unzureichend. Die Videos, in denen die Menschen verzweifelt um Hilfe rufen, sind echt, ich kenne manche von ihnen. Das Erdbeben hat so große Schäden angerichtet, dass sich die Menschen völlig hilflos und alleingelassen gefühlt haben. Antakya existiert so gut wie nicht mehr, die Bewohnerinnen und Bewohner haben entweder keine Bleibe mehr, befinden sich unter den Trümmern oder sind tot. Was würden Sie tun, wenn von heute auf morgen plötzlich nichts mehr so ist wie es mal war, verbunden mit dem Schmerz und dem Wissen, Angehörige verloren zu haben?“ Gibt es Angehörige, die Sie bei den Erdbeben verloren haben? „Leider sind zwei meiner Cousins ums Leben gekommen.“ Etwas Halt und Trost: „Bekomme täglich Nachrichten von Hotelgästen“ Unser herzliches Beileid. Sie leben nicht nur in der Nähe von Antakya, sie haben dort auch ein Hotel betrieben, das nun zerstört ist. Damit sind und waren sicher viele Mühen und Erinnerungen verbunden. „Hinter dem Hotel steckten viele Jahre voller Arbeit, Hingabe, Fleiß, Erinnerungen, Tränen. Es war ein Traum, den mein Mann und ich uns mit unseren Ersparnissen erfüllt hatten. Wir haben dort so viele schöne Menschen kennengelernt und tolle Gespräche geführt. Doch leider ist das gesamte Hotel zerstört. Ich bekomme aber täglich so viele Nachrichten und Anrufe von einstigen Hotelgästen. Sie wollen alle helfen und fragen, was sie für uns tun können. Das ist in dieser schwierigen Zeit etwas, das uns etwas Trost und Halt gibt.“ Neben dem Hotel sind Sie noch als Schulrektorin tätig. Steht die Schule noch? „Ja, sie steht noch. Der Unterricht findet derzeit nicht statt. Daran ist derzeit ohnehin nicht zu denken. Ich stehe aber im Austausch mit dem Kollegium und den Eltern und helfe so gut es kann.“ „Mein Mann und ich können es uns gar nicht leisten, allzu lange zu trauern“ Apropos helfen: Sie verfügen über ein großes Umfeld und Netzwerk. Sie sind besonders auf Whatsapp und Instagram aktiv, wo Sie Gruppen organisieren, Menschen zusammenbringen und über Neuigkeiten oder Kontakt- und Anlaufstellen informieren. Wie lange hat es gedauert, bis Sie nach dem ersten Schock überlegt haben, was zu tun ist? „Ich habe etwa sechs bis sieben Stunden gebraucht, um mich auf die Situation einzustellen. Als gut vernetztes Paar haben wir uns gefragt, welche Menschen wir ansprechen können, die anpacken und denen wir auch zutrauen, führen zu können, denn das ist auch wichtig in solch einer Krise. Die Menschen brauchen uns, mein Mann und ich können es uns gar nicht leisten, allzu lange zu trauern oder uns zurückzuziehen. Es geht auch darum, Stärke zu demonstrieren und etwas für die Moral der Bevölkerung zu tun. Da sehen wir uns in der Pflicht.“ Aus dem In- und Ausland sind viele Rettungskräfte gekommen. Auch die Menschen vor Ort versuchen wie Sie mit eigenen Mitteln zu helfen und etwas auf die Beine zu stellen. Es ist ein großer Zusammenhalt zu spüren, die Solidarität ist enorm. Auf der anderen Seite gibt es auch Leute, die die Situation ausnutzen und Supermärkte oder Apotheken plündern. Wie nehmen Sie diesen Kontrast wahr? „Das ist wirklich erstaunlich zu sehen. Einerseits helfen manche und denken an andere, andererseits denken welche nur an sich. Dass Märkte und Apotheken geplündert wurden oder noch werden, stimmt und hat in meinen Augen zwei Gründe. Entweder haben die Menschen wirklich einen großen Bedarf, weil es nichts gibt und sie alles verloren haben, oder es kommt einfach das „Schlechte“ in ihnen zum Vorschein. Was auch immer geschieht, dürfen wir uns nicht so verhalten. Das gehört sich einfach nicht. Ebenso finde ich es aber nicht richtig, die Übeltäter zu verprügeln und sie dabei auch noch filmen.“ Twitter wurde am letzten Mittwoch erst eingeschränkt, dann gesperrt. Es gab harsche Kritik. Haben Sie das mitbekommen vor Ort? „Ja, das habe ich. Die Sperre hielt mehrere Stunden an und wurde dann wieder aufgehoben. Der Protest war enorm, man hat das schon mitbekommen, nicht nur in der digitalen Welt.“ Was erwarten Sie in diesen Tagen von der Politik? „Sie müssen Druck auf die Verantwortlichen ausüben, damit die Verschütteten, ob tot oder lebendig, endlich aus den Trümmern geborgen werden können. Die Angehörigen haben ein Recht darauf, ihre Verwandten zu bestatten. Das ist das Mindeste. Zudem drohen Krankheiten und Seuchen, sollte die Bergung der Leichen noch länger dauern. Ein anderes Thema ist der Straßenverkehr. Es ist wichtig, dass er wieder geregelt ablaufen kann. Auch hier wünschen wir uns mehr Engagement von der Politik.“ … Einstige Hotelbesitzerin im Interview: „Antakya? 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