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Kolumnen

Gezi-Proteste: Ein Rückblick

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Der Versuch, durch Krawalle die Regierung zu stürzen, ist gescheitert. Der Erfolgsweg der Türkei wird sich fortsetzen, ob selbsternannte Eliten das wollen oder nicht. Aber auch die Regierung sollte einiges an ihrem Stil verändern. (Foto: zaman)

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Gezi-Proteste: Ein Rückblick
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Die Gezi-Proteste sind vorüber. Die Türkei macht Sommerferien. Wochenlang haben westliche Medien, insbesondere auch unsere Anstalten und Blätter, über die, wie sie es nannten, „Volksaufstände“ in der Türkei berichtet. Die – um es diplomatisch zu formulieren: stark monoperspektivisch geprägte – Berichterstattung wurde zweifellos auch bei den in Deutschland lebenden Türken und türkischstämmigen Deutschen registriert. Tagtäglich wurden planmäßig Berichte und Bilder angeblicher oder tatsächlicher „brutaler Polizeigewalt“ in Print- und Onlinemedien sowie TV-Nachrichten lanciert. Interviews wurden dabei fast ausschließlich von Regierungsgegnern und so genannten „Opfern der Polizeigewalt“ verbreitet.

Ein bekanntes deutsches Nachrichtenmagazin, das seit einigen Jahren eher auf dem Niveau hiesiger Boulevardzeitungen berichtet, hat sogar erstmals einen Teil seiner Ausgabe auch in türkischer Sprache produziert. Politiker aller Parteien haben die Türkei mit Belehrungen in punkto Rechtsstaatlichkeit überhäuft. Einige sind sogar selbst zu den Protesten gereist, um sich später mit geschwollenem Gesicht von Pressefotografen ablichten zu lassen und so der Stadt und dem Erdkreis zu demonstrieren, wie schlimm doch die „Polizeibrutalität“ beim EU-Beitrittskandidaten wäre.

Gewaltmonopol liegt beim Staat

In demokratischen Gesellschaftssystemen liegt das Gewaltmonopol regelmäßig beim Staat, sprich bei der Polizei. Niemand hat das Recht, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden. Diesem Grundsatz wird bei Bedarf notfalls auch unter Einsatz unmittelbarer Zwangsmittel Geltung verschafft. Wer das nicht glauben mag, kann sich die Bilder der Mai-Demonstrationen der letzten Jahre in Berlin und Hamburg ansehen, kann einen Blick auf die tagelangen, gewalttätigen Ausschreitungen während des G8-Gipfels in Heiligendamm, auf das Vorgehen der Polizei gegen die Castor-Gegner, Stuttgart 21 oder der „kapitalismuskritischen“ Occupy-Bewegung vor Augen führen. Wenn Demonstranten Sitzblockaden veranstalten, sich an Gleise ketten oder sogar Gewalt gegen die Polizei anwenden, öffentliche Einrichtungen oder Privatbesitz zerstören und in Brand setzen, dann ist es wohl nicht unmöglich, nachzuvollziehen, dass die Polizei irgendwann mal gezwungen ist, zu reagieren. „Die Freiheit eines jeden hört dort auf, wo die Freiheit eines anderen beginnt.“ Dieses Credo, das man schon in der Grundschule lernt, sollte eigentlich auch den „Freiheitsfalken“ und Universitätsabsolventen vom Taksim-Platz und dem Gezi-Park bekannt sein.

Die Bilanz des Zerstörungswahns durch die in hiesigen Medien als „Freiheitsaktivisten“ gelobten Randalierer in der Türkei: 45 Rettungsfahrzeuge, 90 öffentliche Verkehrsbusse, 60 öffentliche Gebäude, Bushaltestellen, 12 Parteibüros, 215 private PKW, 340 Geschäfte, 240 Polizeifahrzeuge und 70 öffentliche Überwachungskameras. Ein toter und ein schwerverletzter Polizeibeamter.

Moralische Hilfe durch manipulative und emotionalisierende Medienberichterstattung

Den Menschen in Europa wurden während der Zeit der Proteste selektiv ausgewählte Bilder und Aussagen geboten, die eher an eine Showveranstaltung erinnerte als an sachlich-objektive Berichterstattung. Die Mehrzahl der Medien, leider auch der staatlichen und durch Rundfunkgebühren – auch der türkischen Minderheit in Deutschland – finanzierten Medien ging ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich einer wenn schon nicht neutralen, dann wenigstens zumindest umfassend informativen Berichterstattung, kaum nach. Somit erweckten sie zumindest in den Tagen der Gezi-Proteste ein Bild der Gleichschaltung, das man eigentlich eher aus totalitären Systemen kennt.

In der Türkei wurde selbst in regierungskritischen Blättern wie der „Hürriyet“ ausgewogener, kritischer und sachlicher berichtet, als es hier der Fall war. Bilder von „Aktivisten“, die Polizisten mit Molotowcocktails, Steinen, Glas- sowie Stahlkugeln und Zwillen angreifen, suchte man in unseren so genannten Qualitätsmedien dagegen vergebens. Zerstörte und in Brand gesetzte Haltestellen, Parteibüros, Verkehrsbusse, Polizeiautos und öffentliche Gebäude, eingeworfene Scheiben von Geschäften? Nein, diese freiheitsliebenden Regierungsgegner wurden als die „Unschuld in Person“ dargestellt. Sie wurden als „friedliche Demonstranten“, „Freiheitskämpfer“ und „Demokraten“ apostrophiert. Dieses einseitige Bild vermittelten unsere Medien wochenlang. Die blinde Zerstörungswut, Nötigung, tätliche und körperliche Übergriffe der „Freiheitskämpfer“ gegenüber Zivilisten und Menschen, die in diesen Tagen anderer Meinung waren, wurden dagegen systematisch und mit Erfolg ausgeblendet. Sie passten nämlich nicht in die inszenierte „Horrorshow“.

Agenturtexte und -fotos wurden völlig unkritisch und aus dem Zusammenhang gerissen sowie ohne weitere Recherche übernommen. Da in entwickelten Staaten Konflikte immer weniger mit Waffen ausgetragen werden und deshalb Informationsmanipulation, Falschmeldungen sowie Lügen zu den neuen Konfliktwerkzeugen zu gehören scheinen, erinnerten die verbalen Ausdrucksformen, Aussetzer, beidseitigen Beschimpfungen und gegenseitigen Schuldzuweisungen einiger Journalisten und Politiker an die Kriegsrhetorik alter Zeiten. Zudem deutete diese Art der Kommunikation darauf hin, dass wohl eine rote Linie in den bilateralen Beziehungen überschritten, zumindest jedoch angetastet wurde.

Vernetzung der Regierungsgegner nach wie vor intakt

Ein entscheidender Grund, wieso hiesige Medien so provokant, destruktiv, manipulierend und parteiisch über die Vorfälle in einigen türkischen Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara berichten, ist unter anderem, dass ihre Quellen und Ansprechpartner gerade und fast ausschließlich aus regierungskritischen Kreisen stammten. Diese Personen sind nach wie vor in Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Sicherheitsbehörden und Medien international bestens vernetzt. „Schaut man sich nur mal die Personalpolitik einiger Parteien oder einiger Bereiche des öffentlichen Dienstes genauer an, erkennt man sehr genau, welche politisch-ideologischen und ethnisch-konfessionellen Gruppierungen gefördert werden“, sagt der Soziologe Tütüncü. „In der Besetzung von Medien und Verlagen“, so Tütüncü weiter, scheine dies wohl nicht anders zu sein. „Viele Medien ergreifen also ganz klar Partei, wobei sie bei Bedarf auch mal ihren ethischen Berichterstattungskodex über Bord werfen. Es hat auch etwas damit zu tun, welchen international agierenden Kreisen, Unternehmen und Persönlichkeiten diese Medien nahe stehen oder gar angehören.“

Religionsfreiheit ist auf dem Höhepunkt, Probleme sind Chauvinismus und Militarismus

Wenn einige Journalisten und Think-Tanks jetzt von einer angeblichen „Islamisierung“ der Türkei sprechen, ist das entweder ein Ausdruck verschwörungstheoretischer Paranoia oder eine bewusste Unwahrheit. In der 90-jährigen Geschichte der türkischen Republik gab es noch nie eine derart stark ausgeprägte Religionsfreiheit wie heute. Die streng säkulare Türkei war bis vor wenigen Jahren noch religionsdistanziert und kritisch gegenüber jedem Glauben, sei es nun Judentum, Christentum, Buddhismus oder Islam. Der Staat sah es gleichsam als seine Pflicht an, Menschen so weit wie möglich ihre religiösen Überzeugungen auszutreiben. Offenbar verkörperte man auf diese Weise geheime Sehnsüchte hiesiger Eliten, die sich durch das Grundgesetz daran gehindert sehen, eine Politik dieser Art in Deutschland durchzusetzen – dies könnte ein weiterer Grund für die fanatische Parteinahme zu Gunsten der Kemalisten in deutschen Medien sein. Seit etwa fünf bis zehn Jahren hingegen bemüht sich die Türkei ernsthaft um religiöse Toleranz sowie konfessionellen und religiösen Frieden. Das passt dem antireligiösen, laizistischen Establishment ganz und gar nicht. So wurden diese schon in jüngerer Vergangenheit Teil eines Agitationskartells, das gegen christliche Missionare hetzte und jedwede christlich-islamische Dialogbemühungen torpedierte. Sabotiert wurden auch die alevitisch-sunnitische sowie türkisch-kurdische Annäherung. Das eigentliche Problem der Türkei seit ihrer Republikgründung bzw. noch davor, seit Mitte des 18. Jahrhunderts, war und ist weniger die Hinwendung zur Religion, sondern sind vielmehr der aus dem „aufgeklärten“ Europa importierte, chauvinistische Ethnonationalismus, fanatische Laizismus und Militarismus gewesen.

Putsche in der Türkei sind eine ruhmlose Angewohnheit

Die Türkei ist erst seit einigen Jahren auf dem Weg in eine Demokratie nach westlichen Maßstäben. Bis dato hatte das Land viele Bewährungsproben nicht bestanden. Ein Establishment, das die Modernität und seinen originellen Lebensstil für sich pachtete, das sich hinter dem glorreichen Republikgründer Mustafa Kemal „Atatürk“ versteckte und ihn immer und immer wieder für die eigenen Ziele und Zwecke benutzte, saugte das Land aus, verschaffte sich selbst weitgehende Privilegien und behandelte die Mehrheit der türkischen Bevölkerung wie Menschen zweiter und dritter Klasse. Diese Minderheit besetzte indessen systematisch die Schaltstellen im Staate: Justiz, Verwaltung, Militär, Staatsbetriebe, Schulverwaltung, Universitäten – alles war in den Händen dieser autoritären Clique. Sie bestimmten durch Verbote, Strafen, Folter und auch Morde, wie und ob die Menschen in der Türkei zu leben hatten. Und jedes Mal, wenn das Volk nach Ende der Einparteiendiktatur 1947 eine Regierung wählte, die dieser antidemokratischen Elite nicht passte, gab es in der Türkei einen Putsch. 1960 wurde der beliebte Ministerpräsident Adnan Menderes gestürzt und gehängt.

Hingerichtet wurde dadurch nicht nur Menderes selbst, sondern auch die Volkssouveränität. 1970 gab es einen erneuten Putsch der laizistischen Generäle. 1980 putschten sie ein drittes Mal. Staatspräsident Turgut Özal verstarb plötzlich und unerwartet. Vor knapp einem halben Jahr wurden die sterblichen Überreste Özals, der sich ebenfalls mit den laizistischen Generälen und deren Verbindungspersonal im Staate angelegt hatte, eingehend untersucht. Es kam heraus, dass Özal vergiftet wurde. Zuletzt wurde 1997 der vom Volk gewählte Ministerpräsident Necmettin Erbakan zum Rücktritt gezwungen. Kenner sprachen damals von einem „kalten Putsch“. Die Putsche und Putschversuche gehören zu den schlechten Manieren dieser Gegner der Volkssouveränität. Diese elitäre Gruppe, die die Volkssouveränität und das Selbstbestimmungsrecht des Volks mit Füßen tritt, möchte mit aller Macht die alten Vorrechte zurückbekommen.

Stoß gegen die Volkssouveränität

Nun scheint sich diese ungeschickte Angewohnheit erneut zu zeigen. Wieso? Weil dieser alten Kaste die Privilegien beschnitten wurden? Weil die Korruptions- und Vetternwirtschaft dieser Kreise beendet wurde? Weil die Türkei unter den 20 größten Weltwirtschaftsmächten gelistet wird? Weil die Türkei in der Lage ist, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) selbst Geld zu leihen? Weil sie dabei ist, den langjährigen „Kurdenkonflikt“ souverän zu lösen? Weil die Türkei ihren Blick nicht mehr nur gen Westen richtet, sondern in alle Himmelsrichtungen? Weil sie bereit ist, eine entscheidende Rolle auf dem Balkan, in Afrika, in Nah- und Mittelost sowie Westasien zu übernehmen? Weil Istanbul zu einem Knotenpunkt der internationalen Finanzwirtschaft, des Schiffs-, Flug- und Energieverkehrs wird? Weil die Türkei das einzige Land ist, das eine derartige Schlüsselrolle in dieser strategisch wichtigen Region besitzt? Weil die Türkei immer unabhängiger und eigenständiger wird? Weil sie in der Rüstungs- und Raumfahrttechnik eigene Wege geht? Weil sie zu einem ernsten Akteur und damit zu einer Konkurrenz, besonders auf dem afrikanischen Kontinent, anwächst? Weil das Handelsvolumen mit bestimmten Regionen zu Lasten anderer Staaten zunimmt? Kurz: Weil die Türkei kaum noch einzufangen ist? Warum eigentlich?

Türkisch-afrikanisches Handelsvolumen von 2002 bis 2011 verfünffacht

Die Internetplattform „GermanForeignPolicy.com“ schreibt in einer Analyse z.B.:

„Die Türkei richtet ihre wirtschaftliche und politische Expansion mittlerweile nicht mehr nur auf die arabischen Mittelmeerstaaten Nordafrikas, sondern auf den gesamten Kontinent. Auf der Grundlage dynamisch boomender Exporte hat sich das türkisch-afrikanische Handelsvolumen von 2002 bis 2011 verfünffacht; es soll in diesem Jahr weiter auf insgesamt 32 Milliarden US-Dollar steigen – also auf einen Wert, der sich bereits dem türkisch-deutschen Handelsvolumen annähert. Unterhielt Ankara im Jahr 2005 nur vier Botschaften südlich der Sahara, so waren es Anfang 2012 bereits 15; im Jahr 2008 wurde bei einem Türkei-Afrika-Gipfel in Istanbul, begleitet von einem Türkisch-Afrikanischen Unternehmerforum, eine ‚strategische Partnerschaft’ zwischen Ankara und der Afrikanischen Union (AU) in die Wege geleitet.“

Eigenständige Politik Ankaras als Störfaktor?

„GermanForeignPolicy.com“ spricht überdies von einer „Befürchtung, Ankara könne außenpolitisch eigene Wege gehen und deutsch-europäischen Interessen zuwiderhandeln. Vor wenigen Wochen sorgte der türkische Ministerpräsident mit dem Vorschlag international für Aufmerksamkeit, die Türkei könne womöglich der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) beitreten, zu der sie seit dem Juni 2012 als fester ‚Dialogpartner’ institutionalisierte Beziehungen unterhält. Die SCO ist ein Bündnis, das – getragen von China, Russland und mehreren Staaten Zentralasiens – auf dem Feld der sogenannten Sicherheitspolitik tätig ist und manchen als künftige Alternative zur NATO gilt. Experten halten eine vollständige Abkehr der Türkei vom Westen zwar für unwahrscheinlich. Doch zeigen Pläne, auf ökonomischem und auf energiepolitischem Gebiet beträchtlich enger als bisher mit Russland zu kooperieren – die Rede ist von einem türkisch-russischen Handelsvolumen von bis zu 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 -, dass Ankara sich ehrgeizig um neue Optionen bemüht.“

Abnahme der türkisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen

Die Außen- und Sicherheitspolitikexperten der „GermanForeignPolicy.com“-Seite weisen zudem auf diesen wichtigen Punkt hin:

„Berlin konnte sich bei seinen Einflussbemühungen bislang stets darauf stützen, dass Deutschland bis heute größter Investor und größter Handelspartner der Türkei ist. Diese Position ist inzwischen jedoch gefährdet: Gingen 2007 noch 56 Prozent der türkischen Exporte in die Eurozone, waren es 2012 nur noch 40 Prozent, während zugleich die Ausfuhren nach Nordafrika und Mittelost von 18 auf 34 Prozent stiegen.“

„Autoritärer Regierungsstil“ als Grund für Proteste?

Die Gründe für die Proteste können also weder der angebliche „autoritäre Regierungsstil“ des Regierungschefs sein, noch der Wille, einige Bäume abzuholzen. Der gehängte Ministerpräsident Adnan Menderes war sehr zuvorkommend und antiautoritär. Ihm wurde seine Barmherzigkeit zum Verhängnis. Ach ja: Übrigens wurden die Macht- und Gewaltbefugnisse der Polizei erst unter der jetzigen Regierung begrenzt, die die erlaubte Verhörzeit verkürzte und Folter verbot.

„Westliche Demokraten“ mit Hammer und Sichel?

Bei den Demonstrationszügen in Deutschland fiel auf, dass Fahnen von Terrororganisationen zusammen mit denen linksextremistischer, marxistisch-kommunis
tischer Gruppen und türkischen Fahnen, Atatürk-Fahnen und Flaggen hiesiger Organisationen, die von bestimmten Stellen protegiert werden, Seite an Seite geschwenkt wurden. Dazu gesellten sich hier und da auch Fahnen der rechtsextremistischen Pro-Bewegung. Auch wenn sich eine Organisation im Nachhinein von dieser Bewegung schriftlich distanziert hat, bleibt das Bild doch bestehen, dass hier Islam-, Türken- und Türkeifeinde Seite an Seite marschiert sind, agiert und agitiert haben. Auf der anderen Seite stieß man auf Fahnen aus dem gesamten Nahen Osten, aus Afrika, den asiatischen Turkstaaten sowie dem Balkan. Auffällig war darüber hinaus, dass bei den Protesten auch hasserfüllte Parolen gerufen wurden. Jedoch sollte auch der Protest über eine Ethik und ein Mindestmaß an Normen verfügen. Dumpfe Beleidigungen unter der Gürtellinie und üble Schmähungen verdeutlichten allerdings, dass es den Personenkreisen, die zu dieser Art des Protests griffen, an zivilisiertem Verhalten und sachlichen Argumenten fehlte. Auch diejenigen, die antiisraelische Parolen von sich gaben, zählen zu dieser Kategorie. Hetze gegen ein Volk, eine Religion oder eine sonstige Gruppe ist nicht akzeptabel. Wie wäre es gewesen, wenn die Demonstranten anstatt Hassparolen Friedenslosungen gerufen hätten? Welch ein konstruktives Bild und eine vorbildliche Botschaft wäre entstanden, anstatt Aufschriften mit Erniedrigungen einfach nur Blumen hochzuhalten und zu verschenken? Bei ihrem nächsten Protest könnten sich diese Menschen über diese friedlich-alternative Protestform Gedanken machen.

Der Putschversuch ist fehlgeschlagen

Die aus der Geschichte herrührende, zum Teil infantile Angewohnheit, die Volkssouveränität zu missachten, scheint sich dieser Tage zu wiederholen. Diesmal sogar mit erstaunlich offener internationaler moralischer Unterstützung. Das türkische Volk mit all seinen ethnischen, konfessionellen und religiösen Mosaiken hat sich aber nicht an der Nase herumführen lassen, wie so oft in der Vergangenheit. Diesen schlechten Film hatte die Türkei bekanntlich zu oft gesehen. Langsam wurden die Szenarien langweilig. Ganz gleich, wie sehr die moralische, finanzielle, mediale und logistische Unterstützung der Möchtegern-„Freiheitskämpfer“ gewesen ist: Die Volkssouveränität und die Demokratie in der Türkei scheinen gereifter denn je zu sein. Und zwar dermaßen, dass auch eine tagtägliche Medienpropaganda nicht in der Lage war, dies zu ändern.

Die Türkei hat gezeigt, dass sie nicht Ägypten ist. Hier konnte es im Gegensatz zu ungefestigten Demokratien in der Nachbarschaft niemandem gelingen, eine demokratisch gewählte Regierung zu stürzen und das Land ins Chaos zu treiben. Die Türkei hatte ihren Frühling – die demokratische Prüfung -, nämlich schon am 3. November 2002, also bereits vor über 10 Jahren, hinter sich gebracht. Erst wenn das Volk, das im November 2002 einen Wechsel herbeigeführt hat, erneut an der Wahlurne für einen Wechsel votiert, wird und darf es diesen geben. Das ist Volkssouveränität, das ist das Selbstbestimmungsrecht der Völker und das ist Demokratie.

Kritik ernst zu nehmen steht für Weisheit

Die Gezi-Proteste können als eine Bewährungsprobe für die türkische Volkssouveränität verstanden werden, aus der die Demokratie und das politische System des Landes gereifter und stabiler emporgekommen sind. Die Demokratie in der Türkei wird sich hierdurch weiter stabilisieren. Jedoch sollte eines nicht vergessen werden: Eine typische und aus der Historie bekannte Charaktereigenschaft in der Region ist die Solidarität mit Benachteiligten. Die Völker des Nahen und Mittleren Ostens sind weniger auf der Seite des Stärkeren und Mächtigen, sondern auf der Seite dessen, den sie im Recht sehen und der Personen, denen Unrecht zuteilwird.

In der Türkei hat die große Mehrheit des Volkes bei den letzten Wahlen immer für politisch-gesellschaftliche Stabilität und ökonomische Prosperität gestimmt. Der türkische Premierminister gibt sich volksnah. Er, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, der einer von den ganz einfachen Menschen ist, vermittelt den Menschen genau dieses Gefühl, einer von ihnen zu sein. So hat er es in die Herzen der Menschen geschafft. Und so hat er es auch geschafft, die neidvolle, missgünstige Abneigung anderer auf sich zu laden, wie man in den letzten Wochen sehr deutlich zu sehen bekam.

Der Premierminister ist aber auch kein Messias. Er ist auch nur ein Mensch wie jeder andere. Er macht auch Fehler. Und wenn das Volk ihn nicht mehr möchte, hat es letztendlich die Macht, ihn nicht mehr zu wählen. So einfach ist manchmal Demokratie. Bleibt zu hoffen, dass der Premierminister auch auf seine Kritiker hört und aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. Beobachter sprechen unter anderem davon, dass er sich von den Falschen beraten lässt und wenig kompromissbereit sei. Aber: Erfolg lässt sich gerade durch Kritik steigern. Die Annahme von Kritik zeugt von Reife und Klugheit. Leider missverstehen nicht wenige Menschen – gerade aus dieser geografischen Region -, Kritik und werten sie als persönlichen Angriff. Sie können nur schwer mit Kritik umgehen. Wenn Personen ein Amt bekleiden dürfen(!) oder andere mit Professorentiteln und Ämtern ausgestattet werden, denken diese, sie seien das Zentrum der Welt. So ist es aber nicht. Auch diese Menschen machen Fehler. In Amt und Würden gelangte Menschen können, müssen aber nicht, leichtsinnig werden oder abheben. Gerade sie müssen jedoch auf der Hut sein. Nicht nur vor anderen, sondern auch vor sich selbst. Vor dem eigenen Ego.

Kooperation statt Konfrontation

Die „Brennpunkte“ und „Aktuellen Stunden“ der internationalen TV-Anstalten oder die Sonderseiten der Tages- und Wochenzeitungen konnten die Meinung in der Türkei nicht kippen. Medienethisch arm war außerdem, dass die Massenkundgebungen, die für den Ministerpräsidenten stattfanden – in Istanbul zuletzt mit über einer Million(!) Anhängern –, der begeisterte Empfang von Hunderttausenden, die dem türkischen Regierungschef nach seiner Nordafrika-Reise am Istanbuler Flughafen zujubelten, in den internationalen Medien systematisch ausgeblendet wurden bzw. kaum eine Rolle spielten. Es wurde pedantisch drauf geachtet, ein bestimmtes Bild zu transportieren: Das Bild eines in Aufruhr und unter Spannung befindlichen Landes am Rande eines Bürgerkriegs.

Auch die nach wie vor breite Unterstützung und der Rückhalt beim Volk blieben oft unerwähnt. Die Mehrheit des türkischen Volkes steht weiterhin zu der Person, der sie zeitlich begrenzt eine politische Machtbefugnis erteilt hat. Umfragen zeigen, dass die jetzige Regierungspartei beim Wähler unangefochten an erster Stelle liegt. Nach den letzten Umfrageergebnissen des Sozialforschungsinstituts Andy-AR ist die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) mit 49,6 Prozent weiterhin stärkste Kraft im Land. Auf Umfragen allein sollte man sich allerdings nicht immer verlassen. Ob dieser erfolgreiche Trend auch weiterhin bestehen bleibt, wird neben der politischen und wirtschaftlichen Stabilität nicht zuletzt auch von der Kritik- und Kompromissbereitschaft der Regierung und ihrer Akteure abhängen. Möglicherweise könnte über eine bescheidene Richtungs- oder eine Stilkorrektur nachgedacht werden. Kooperation statt Konfrontation könnte eine Lösung sein. Sowohl national wie auch international. Sowohl innen- wie auch außenpolitisch.

Autoreninfo: Yasin Baş ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”. Die Themenschwerpunkte von Yasin Baş sind: Türkisch-Deutsche Beziehungen, Ethnomarketing, Integrations-, Mig
rations- und Sicherheitspolitik und Deutsche Geschichte (nach 1871).