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Politik

Jesiden: Die Peschmerga haben uns verraten

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Nach der überraschenden Offensive der Terrorgruppe IS in der nordirakischen Region Shingal erheben die dort lebenden Jesiden schwere Vorwürfe gegen die Peschmerga. Von der Vertrauenskrise könnte nun die PKK profitieren. (Foto: reuters)

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Jesiden auf der Flcuht vor dem heranrückenden IS
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Einheiten der Terrorgruppe „Islamischer Staat“ sind am vergangenen Wochenende in die nordirakische Region Shingal vorgedrungen. Man könnte meinen, es sei nur eine weitere Region im Irak, die der IS anscheinend mühelos einnimmt. Die Fakten sprechen allerdings für sich und eine genauere Betrachtung der Lage in der Region zeigt, wie dramatisch die Situation wirklich ist.

Die in der betroffenen Region lebenden jesidischen Kurden – Schätzungen zufolge etwa 500 000 Menschen – werden von den heranrückenden Extremisten als Ungläubige betrachtet. Zehntausende Bewohner flüchteten in Panik, als sich die kurdischen Sicherheitskräfte am Wochenende zurückzogen. Bei dem anschließenden Vormarsch der Extremisten sind Medienberichten zufolge hunderte Menschen getötet worden. Außerdem sollen mehrere Familien mitsamt Kleinkindern verschleppt worden sein. Ein geflüchteter Anwohner sagte, die IS-Kämpfer würden die Tötung eines Jesiden als „automatisches Visum ins Paradies“ betrachten.

Die Frage nach dem Warum wird besonders innerhalb der jesidischen Bevölkerung immer lauter: Die kurdischen Peschmerga hatten sich in der Vergangenheit stets als heroische Verteidiger präsentiert und vor der IS-Offensive immer wieder von Verstärkungstruppen in ihren eigenen Reihen gesprochen, was uns auch von Anwohnern bestätigt wurde. Die ansässigen Jesiden verließen sich daher auf den Schutz der Peschmerga.

Zog sich die Peschmerga vorsätzlich zurück?

Jedoch mehren sich nun die Berichte darüber, dass die Peschmerga allem Anschein nach nicht im Kampf geschlagen wurden, sondern ihre Stellungen vorsätzlich verließen. „Die Peschmerga haben die Offensive heraufbeschworen, indem sie ihre Stellungen grundlos aufgegeben haben“, so die schwere Anschuldigung von Anwohnern, die in Shingal-Berge fliehen konnten und dort telefonisch Kontakt zu ihren Verwandten halten. „Nachdem wir Konvois der Peschmerga in Richtung Norden beobachten konnten, haben wir uns nichts dabei gedacht. Wir fühlten uns sicher. Und als wir die verlassenen Grenzstellungen gesehen haben, waren wir immer noch nicht beunruhigt. Als jedoch die gesamten Quartiere der Peschmerga klammheimlich und ohne jede Warnung von einem Moment auf den anderen leer standen, brach Panik aus.“

Die Lage der Flüchtlinge ist ihren Angaben zufolge katastrophal. Etliche Kinder und Greise sind den Berichten der geflohenen Anwohnern bereits an Hunger und Durst gestorben. Die UN sprach von einer „humanitären Tragödie“, die sich in Shingal ereigne.

Der Schock innerhalb der betroffenen jesidischen Gemeinden sitzt tief. Augenzeugenberichten aus Shingal zufolge versuchten viele jesidische Männer ihre Orte nach dem Rückzug der Peschmerga und dem Beginn der IS-Offensive selbst zu verteidigen. „Wir haben die fliehenden Peschmerga um ihre Waffen gebeten, sie angefleht, uns wenigstens Munition da zu lassen. Wir baten darum, dass sie uns zumindest die kürzlich vom den irakischen Kräften zurückgelassenen Waffen geben. Alles wurde nicht nur abgelehnt, uns wurden sogar auch noch unsere eigenen Waffen abgenommen.“ Stimmen innerhalb der jesidischen Bevölkerung wurden laut, die Peschmerga hätten die Jesiden verraten und aus politischem Kalkül verraten. Dieser Vertrauensverlust könnte indes weitreichende Konsequenzen für die nordirakische Kurdenregion haben.

PKK-Chef Karayılan: „Wir werden ein 73. Massaker an Jesiden nicht zulassen“

Die PKK könnte die Vertrauenskrise zwischen der jesidischen Bevökerung und den Peschmerga nutzen und ihren Einfluss im Nordirak ausbauen. Der Oberkommandeur der PKK, Murat Karayılan, meldete sich vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Shingal bereits zu Wort und schwor, dass er mit aller Macht und mit Hilfe des syrischen Arms der PKK – den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG – ein 73. Massaker an den Jesiden nicht zulassen werde. Jesidischen Quellen zufolge erlebte die Glaubensgemeinschaft in ihrer Geschichte bereits 72 Massaker, die meist von djihadistischen Extremisten verübt wurden. Die PKK und mit ihr verbundene Gruppen liefern sich seit langem einen Machtkampf mit dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan (KRG), Massoud Barzani.

Zwar befahl der irakische Ministerpräsident Nouri al-Maliki Medienberichten zufolge der vor kurzem durch russische Zukäufe verstärkten irakischen Luftwaffe, Stellungen des IS um Mossul zu bombadieren und so die kurdischen Peschmerga zu unterstützen. Auch Barzani versprach, den Jesiden, bei der Rückeroberung ihrer Siedlungsgebiete behilflich sein zu wollen. Die gestrigen Meldungen, dass Shingal von den Peschmerga-Einheiten zurückerobert worden wäre, wurden von Anwohnern jedoch dementiert.

Tatsächlich sollen es Augenzeugenberichten zufolge Einheiten der aus Syrien herangeeilten YPG gewesen sein, die bis zum Dienstagmittag nach schweren Gefechten mehrere Ortschaften in der Region zurückeroberten. Die YPG-Verbände stehen Anwohnern zufolge unter der Führung von einem als „Can Polat“ bekannten kurdischen Kommandeur.

Die Jesiden aus Shingal haben sich unterdessen zu einer Verteidigungsfront zusammengeschlossen. Im Internet waren Filmaufnahmen dieser Gruppe zu sehen, die offenbar in der Region Shingal mehrere gefangengenommene IS-Kämpfer zeigten. Auf die Frage, warum andere Gruppen nicht gegen IS vorgingen, antwortet ein jesidischer Kämpfer: „Weil wir unser eigenes Land und unsere Familien schützen. Man kann es niemand anderem verübeln, dass sie ihr Leben nicht riskieren. Aber uns gleich zu verkaufen, geht zu weit.“