Connect with us

Kultur/Religion

Die Yeziden: Die „Sonnenanbeter“ aus Mesopotamien

Spread the love

Seit Wochen erreichen uns schreckliche Bilder aus dem Norden des Iraks, wo die IS-Terrormilizen rücksichtslos gegen religiöse und ethnische Minderheiten vorgehen. Wohl keine andere Minderheit wird dabei so grausam verfolgt wie die Yeziden. (Foto: reuters)

Published

on

Seit Wochen erreichen uns schreckliche Bilder aus dem Norden des Iraks, wo die IS-Terrormilizen rücksichtslos gegen religiöse und ethnische Minderheiten vorgehen. Wohl keine andere Minderheit wird dabei so grausam verfolgt wie die Yeziden.
Spread the love

GASTBEITRAG Mesopotamien im Jahre 3.000 vor Christus. Die Wiege unserer Zivilisation. Im Zweistromland zwischen den großen Flüssen Euphrat und Tigris leben Völker wie die Sumerer, Babylonier und Assyrer. Ihnen und anderen Kulturen des Nahen Ostens haben nachfolgende Generationen viele wichtige Elemente der Entwicklung zu verdanken. Ackerbau, Viehzucht oder ausgeklügelte Systeme zur Bewässerung der Felder gehören zu diesen Errungenschaften. Diese Fortschritte ermöglichen den Menschen Lebenskomfort und Wohlstand. Dadurch entsteht eine blühende Region, in der die unterschiedlichsten Völker sich die fruchtbare Erde teilen. Das Grundwasser Mesopotamiens gilt als eines der saubersten der Welt. Bis heute.

Mesopotamien im Jahre 2014 nach Christus. Das Sindschar-Gebirge im Nordwesten des Iraks, unweit der syrischen Grenze. Binnen einer einzigen Woche im August sind hier etwa 100 Menschen verdurstet (!), der Großteil von ihnen Kinder. Den Erwachsenen erging es nicht viel besser. Unzureichende Verpflegung, primitive Sanitär-Anlagen und ein ungeheurer mentaler Stress haben sie ausgezerrt.

Eingekesselt von feindlichen Einheiten, die ihnen nach dem Leben trachteten, schien ein Ausweg in unerreichbarer Ferne. Mit den letzten Reserven ihrer Handy-Akkus versuchten die verzweifelten Menschen Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Auch mit Deutschland.

Todeskessel Sindschar-Gebirge

Tagelang mussten sie brutale Übergriffe der Terrormiliz IS über sich ergehen lassen. In bestialischer Manier wurden von diesen fanatischen Fundamentalisten Kinder erschlagen, Männer geköpft und Frauen vergewaltigt und verschleppt. Opfer dieser Gräueltaten waren die Yeziden (alternative Schreibweise: Jesiden), ein bis heute weitgehend unbekanntes Kurdenvolk.

Bereits 2007 war die Region Sindschar (kurdisch: Şingal) Opfer religiös-motivierter Anschläge. Und wieder war es ein August. In unmittelbarer Stadtnähe explodierten damals mehrere mit Sprengstoff beladene LKW. Innerhalb einer Stunde wurden Schätzungen zufolge etwa 500 Menschen getötet. Die Zahl stieg schließlich auf 700 Opfer an, sehr viele von ihnen Frauen und Kinder. Die meisten Opfer waren yezidischen Glaubens.

Mesopotamien im Jahre 2014 nach Christus. Das Sindschar-Gebirge im Nordwesten des Iraks, unweit der syrischen Grenze. Binnen einer einzigen Woche im August sind hier etwa 100 Menschen verdurstet (!), der Großteil von ihnen Kinder. Den Erwachsenen erging es nicht viel besser. Unzureichende Verpflegung, primitive Sanitär-Anlagen und ein ungeheurer mentaler Stress haben sie ausgezerrt. (rtr)

Das irakische Parlament, sieben Jahre später: Vian Dakhil’s Stimme bebt vor Emotionen. Unter Tränen ruft sie immer wieder: „Brüder, helft uns! Unsere Männer werden getötet, unsere Frauen versklavt. Brüder, helft uns im Namen der Menschlichkeit!“ Stille und Betroffenheit macht sich unter den anderen Mitgliedern des Parlaments breit. Vian Dakhil, Jahrgang 1971, ist Yezidin. Die einzige im irakischen Parlament. An diesem Tag spricht sie für mindestens 800.000 Menschen. Denn etwa so viele bekennen sich nach Schätzungen zum Yezidentum (kurdisch: Êzdîtî). Wer sind also die Yeziden? Wo kommen sie her? Und wieso wird diesen Menschen solch ein großer Hass entgegen gebracht?

Diaspora und das Leben in Deutschland

Knapp die Hälfte aller Yeziden lebt im Irak. Auch in Deutschland lebt eine bedeutende yezidische Gemeinde. Viele von ihnen flüchteten während der 80er Jahre aufgrund von zunehmenden Repressionen Richtung Europa und ließen sich vor allem hierzulande nieder. Die 60.000 Mitglieder der Glaubensgemeinde in Deutschland verteilen sich vor allem auf die Regionen um die Großstädte Hannover, Bremen und Bielefeld.

In Hannover befindet sich die „Ezidische Akademie“, die sich zentral mit dem Schicksal der in der ganzen Welt verstreuten Menschen der yezidischen Glaubensgemeinschaft beschäftigt. Einer der leitenden Köpfe des Vereins ist der deutsche Theologe und Autor Dr. Lutz Brade, der bereits seit 1990 zur Geschichte der Yeziden publiziert. Daneben werden in der Ezidischen Akademie auch Projekte zu Themen wie Frauenrechte, Integration und Literatur realisiert.

2007, im Jahr des tragischen Anschlags von Sindschar, wurde der Zentralrat der Yeziden in Deutschland gegründet. Ziel dieses Rates ist nach eigenen Angaben die „Förderung und Pflege religiöser und kultureller Aufgaben der yezidischen Gemeinden“ und „der Dialog mit Menschen aus anderen Glaubensgemeinden“.

Knapp vier Jahre später, im Januar 2011, entstand die „Gesellschaft für Christlich-Yezidische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung“. Initiatoren waren u.a. der evangelische Pfarrer Dr. Norbert Kotowski sowie die beiden katholischen Theologie-Professoren Rudolf Grulich und Linus Hauser von der Justus-Liebig Universität in Gießen, wo sich auch der Sitz der Gesellschaft befindet.

Von religiöser oder kultureller Isolation, wie es den Yeziden häufig unterstellt wird, kann man angesichts solcher Entwicklungen wohl kaum noch sprechen. Wie in Kultur und Wissenschaft sind auch in der europäischen Politik Yeziden vertreten.

Feleknas Uca (37), geboren und aufgewachsen im niedersächsischen Celle, war zwischen 1999 und 2009 Europa-Abgeordnete für die PDS bzw. Die Linke. Während dieser Dekade war sie zudem Stellvertreterin für den Ausschuss für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter sowie im Unterausschuss für Menschenrechte.

Ali Atalan (46), geboren in Midyat im Südosten der Türkei, 1985 mit seiner Familie nach Deutschland eingewandert, war zwischen 2004 und 2010 Ratsmitglied der Stadt Münster. Von 2010 und 2012 war der Diplom-Sozialwissenschaftler Mitglied im Landtag Nordrhein-Westfalens.

Die Ursprünge

Die Yeziden sind ethnische Kurden. Fast alle sprechen den Nord-Dialekt ihrer Muttersprache (kurdisch: Kurmancî). Sie leben in den nördlichen Gebieten des Iraks, im Nordosten Syriens und im Südosten der Türkei. Das Hauptsiedlungsgebiet der Yeziden ist dabei der Nordirak, wo etwa die Hälfte von ihnen lebt. In der Nähe der Großstadt Mossul liegt der Ort Laliş, das religiöse Zentrum der Yeziden. Hier befindet sich die Grabstätte des bedeutendsten Heiligen, „ʿAdī ibn Musāfir“. In Baʿadhrā, nahe Laliş, residiert das weltliche Oberhaupt der Glaubensgemeinde „Mīr von Schaichān“. Das religiöse Oberhaupt, der „Baba Sheikh“, lebt in Ain Sifni, ebenfalls unweit von Mossul.

Der Nord-Irak hat daher für die Yeziden eine enorme Bedeutung. Dass die tragischen Ereignisse der letzten Wochen sich ausgerechnet in dieser für sie heiligen Region abspielten, macht das Ganze umso bitterer.

 In der Nähe der Großstadt Mossul liegt der Ort Laliş, das religiöse Zentrum der Yeziden. Hier befindet sich die Grabstätte des bedeutendsten Heiligen, „ʿAdī ibn Musāfir“. In Baʿadhrā, nahe Laliş, residiert das weltliche Oberhaupt der Glaubensgemeinde „Mīr von Schaichān“. (rtr)

Als Yezide wird man geboren. Es gibt keine Möglichkeit, zum Yezidentum zu konvertieren. Dies schließt gleichzeitig aus, dass Yeziden missionarisch tätig werden und Angehörige anderer Religionen bekehren.

Im monotheistischen Yezidentum gilt das Gebot der Eheschließung innerhalb der eigenen Religionsgemeinde. Bei dieser endogamen Heiratsregel handelt es sich um einen historisch entstandenen Prozess, der durch die jahrhundertelangen Verfolgungen den Zusammenhalt und die Solidarität unter den Yeziden stärkte. Aber vor allem in Europa versucht die Gemeinde diese strikte Heiratsordnung zeitgemäßer zu gestalten. Die Entwicklungen der letzten Jahre, u.a. die bereits erwähnten Gründungen von diversen Vereinen und Gesellschaften, geben in dieser Hinsicht Aufschluss.

Der Glaube

Im Gegensatz zum Christentum und Islam gibt es im Yezidentum keine verbindliche religiöse Schrift wie die Bibel oder den Koran. Die religiösen Traditionen und Glaubensvorstellungen werden ausschließlich auf mündlichem Wege überliefert.

Das Yezidentum ist eine monotheistische Religion. Anders als im Islam und Christentum gibt es nicht die Vorstellung eines Widersachers gegenüber dem göttlichen Willen, auch nicht die Existenz einer bösen Kraft. Vielmehr ist Gott einzig, allmächtig und allwissend. Die Aussprache des Bösen oder einer bösen Kraft ist gleichbedeutend mit der Akzeptanz der Existenz dieser bösen Kraft und stellt aus yezidischer Sicht eine Gotteslästerung dar. Begriffe, die das Böse formulieren, werden daher von Yeziden nicht ausgesprochen.

Dadurch gibt es auch keine Hölle-Paradies-Theorie. Die Menschen glauben vielmehr an eine Seelenwanderung und Wiedergeburt. Das Leben endet nicht mit dem Tod, sondern erreicht nach der Seelenwanderung einen neuen Zustand.

In erster Linie ist der Mensch selbst verantwortlich für sein Wirken. Gott hat dem Menschen die Fähigkeit gegeben, zu sehen, zu hören und zu denken. Er hat ihm einen Verstand gegeben, damit er sich den richtigen Weg selbst wählen kann.

Eine zentrale Bedeutung in den yezidischen Glaubensvorstellungen hat der Engel Tausî Melek, der durch einen Pfau symbolisiert wird („Tausî Melek“ = kurdisch für „Engel-Pfau“). Nach der Schöpfungsgeschichte der Yeziden hat Gott Tausî Melek mit sechs weiteren Engeln aus seinem Licht erschaffen und ihn zum obersten dieser Engel erkoren. Tausî Melek ist an der gesamten Schöpfung, am göttlichen Plan, aktiv beteiligt. Somit steht er im Mittelpunkt des Glaubens. Er symbolisiert in der Theologie nicht das Böse und ist daher auch kein in Ungnade gefallener Engel, sondern der Beweis für die Einzigartigkeit Gottes.

Die Sonne ist etwas Heiliges. Die Flagge der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak zeigt in der Mitte eine große goldene Sonne mit 21 Strahlen. Diese Zahl ist für die Yeziden heilig, somit auch der 21. März.

An diesem Tag zelebrieren alle Kurden gemeinsam das Neujahrs-Fest. Traditionell wird bei diesen Feierlichkeiten ein riesiges Feuer in der Mitte der Menschen entfacht.

Das Feuer gilt im yezidischen Glauben als Symbol für Wahrheit und Reinheit. Die Sonne wiederum verkörpert das ewige Feuer am Himmel, den Wiederschein des göttlichen Lichts.

Nachdem IS-Terroristen auf die von Jesiden bewohnten Gebiete vorrückten, flohen tausende Menschen panisch in die umliegenden Berge. Wie viele auf der Flucht starben, ist nicht bekannt. (rtr)

Es herrscht die Auffassung, dass ein Yezide ein guter Mensch sein kann, aber um ein guter Mensch zu sein, muss man nicht zwingend Yezide sein. Ihre Gebete halten Yeziden in ihrer Muttersprache Kurdisch ab. Das unterscheidet sie von den muslimischen Kurden, die auf Arabisch beten und aus dem Koran zitieren.

Eines der Gebete lautet in etwa so: „Ya surra Olî Mihemed bimbarek! Tu miletan xelaskî, herkesî yardimkî, derîkî jî zarê me re!“ („O Antlitz Ali Muhammads, gesegnet seiest du! Erlöse die Völker, helfe allen Menschen und öffne auch unseren Kindern eine Tür!“). In einem anderen heißt es: „Gott, schütze erst die 72 Völker und dann uns.“ Das zeigt die grundsätzlich tolerante Einstellung des Yezidentums gegenüber anderen Religionen.

Aktuelle Situation

In ihren Heimatgebieten waren und sind die Yeziden, ähnlich wie die alevitischen Kurden in der Türkei, seit jeher einer doppelten Verfolgung ausgesetzt: Ethnisch, weil sie Kurden sind. Und religiös, weil sie in den Augen mancher Fanatiker als „Ungläubige“ oder „vom wahren Glauben Abgefallene“ gelten, die es entweder zu bekehren oder umzubringen gilt.

Die leidgeprüfte Glaubensgemeinde hat seit Jahrhunderten mit schwerwiegenden Vorurteilen zu kämpfen. Spätestens seit den willkürlichen Massenmorden im Sindschar-Gebirge müssen sie sich auch blanker Gewalt erwehren. Selbst in Deutschland sind sie vor den Angriffen religiöser Extremisten nicht sicher. Erst kürzlich wurden im ost-westfälischen Herford, wo eine relativ große yezidische Gemeinde lebt, ein Ladenbesitzer und ein Minderjähriger mit Messern attackiert und verletzt. Die Täter waren offenkundige Sympathisanten der IS-Terrormiliz. Jene Einheit, die nicht nur im Sindschar-Gebirge blutige Massaker an Zivilisten verübt hat.

Dass das Yezidentum im Grunde die Ursprungsreligion der Kurden darstellt und große Parallelen zum Zoroastrismus aufweist, wird häufig außer Acht gelassen. Noch heute werden die Yeziden als „Teufelsanbeter“ beschimpft und schweren Repressionen ausgesetzt. Ironischerweise ist das Wort „Yezidi“ dem Begriff „Yazatas“ sehr nahe. Dieser Begriff bezeichnet im Zoroastrismus einen Engel und kann als „Engelsanbeter“ übersetzt werden. Die Yeziden leben bereits seit Jahrtausenden in Mesopotamien. Seit einer Zeit, als noch sauberes Grundwasser die Landschaft tränkte, und nicht das Blut unschuldiger Menschen.

Autoreninfo: Güven Taş ist freier Journalist und hat Geschichte und Romanistik an der Bergischen Universität in Wuppertal studiert.