Bildung & Forschung
Kritik an Islam-Studie: „Nicht alle Gemeinden über einen Kamm scheren“
Eine Studie zu Diskriminierungserfahrungen muslimischer Jugendlicher in Berlin steht in der Kritik. Ein Teil der Befragten soll in verfassungsfeindlichen Vereinen aktiv ein. Stimmt das? Im DTJ-Online-Interview erklärt sich der Leiter der Erhebung.
Herr Willems, können Sie kurz den Anlass sowie die Eckdaten Ihrer Studie „Diskriminierungserfahrungen muslimischer Jugendlicher in Berliner Schulen“ skizzieren?
Anlass für die Studie waren die Erfahrungen aus der Beratungspraxis von ADAS, der Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen in Berlin. An ADAS können sich alle wenden, die mit Diskriminierung in der Schule konfrontiert werden. Dabei geht es um alle möglichen Formen von Diskriminierung, zum Beispiel rassistische Diskriminierung, Antisemitismus, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder von Behinderung. Zwischen Juni 2016 und April 2018 hatte etwa ein Viertel der gemeldeten Fälle einen religiösen Hintergrund. Fast 90 Prozent davon betrafen den Islam. Hinzu kommen Meldungen von indirekter oder institutioneller Diskriminierung, wenn beispielsweise Schulregeln muslimischen Schüler:innen die Ausübung ihrer Religion erschweren oder unmöglich machen, und Meldungen, bei denen es um Diskriminierung aufgrund der Herkunft, des Aussehens, einer Familiensprache oder des Namens geht.
Wie haben Sie die Jugendlichen erreicht?
Wir haben Moschee-Gemeinden, islamische Vereine und Initiativen kontaktiert. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen (zwischen 14 und 27 Jahren) wurden gebeten, standardisierte Fragebögen auszufüllen, in denen es neben Antwort-Alternativen zum Ankreuzen auch offene Textfelder gab. Etwa ein Viertel der Befragten gibt Türkisch als (eine) Familiensprache an. Insgesamt haben 274 Personen an der Befragung teilgenommen, ziemlich genau gleich viele männliche und weibliche, jeweils aus unterschiedlichen muslimischen Gruppierungen und unterschiedlicher familiärer Herkunft aus fast allen Bezirken Berlins. Dennoch handelt es sich nicht um eine repräsentative Studie.
Negative und abfällige Aussagen auf Islam bezogen
Ihre Studie konstatiert unter anderem, dass muslimische Schüler:innen „in Bezug auf ihre islamische Identität oft ein ausgrenzendes Schulklima“ erleben. Woran machen Sie das fest?
Ein Beispiel: Die Mehrheit der von uns befragten Jugendlichen hat den Eindruck, dass an ihren Schulen über Judentum und Christentum weitgehend neutral geredet wird. Diejenigen, die das anders wahrnehmen, meinen überwiegend, dass vor allem das Christentum positiv dargestellt werde. Demgegenüber sei das Bild vom Islam, das an ihren Schulen vorherrsche, deutlich negativer. Dazu passen die Antworten auf die Frage, ob sich Lehrkräfte an ihren Schulen abfällig oder negativ über Religion äußern. Von 266 befragten Jugendlichen geben 166 an, dass das vorkomme. 153 Jugendliche sagen, dass sich solche negativen und abfälligen Aussagen auf den Islam bezögen – und nur dreizehn, dass so über andere Religionen als den Islam gesprochen werde.
Eine Kritik an Ihrer Studie lautet, dass Sie keine Befragungen an Schulen durchgeführt haben, sondern ausschließlich junge Menschen, die in Jugendgruppen muslimischer Gemeinden aktiv sind, zu Wort kommen ließen. Warum ist das so?
Um zu erheben, welche Erfahrungen in Schulen gemacht werden, muss man nicht unbedingt in Schulen Befragungen durchführen. Gerade wenn es um Diskriminierungserfahrungen geht, wäre es möglicherweise sogar problematisch, in Schulen zu fragen, wer muslimisch sei, um sie oder ihn einen Fragebogen ausfüllen zu lassen. Uns ging es, wie gesagt, nicht um Repräsentativität, sondern darum, ein Problem genauer auszuleuchten, das in der ADAS-Beratungspraxis deutlich geworden ist. Wenn wir davon ausgehen, dass vor allem solche Jugendliche Diskriminierungserfahrungen aufgrund ihrer (islamischen) Religion machen, die als Muslim:innen sichtbar sind, dann ist der Weg über muslimische Gemeinden eine Möglichkeit, genau diese Personen zu erreichen.
„Wir haben keine gemeinsame Studie mit Salafisten gemacht“
Die Auswahl der einbezogenen Gemeinden irritiert: Von zehn Vereinen wurden drei in früheren Berliner Verfassungsschutzberichten erwähnt. Was sagen Sie dazu?
Vorab: Es wurden mehr als diese zehn Vereine für die Befragung ausgewählt, von denen sich aber diese zehn bereit erklärten. Darüber hinaus wurden, wie beschrieben, über weitere Netzwerke Personen kontaktiert. Dann ist es richtig, dass Jugendliche, die in islamischen Gemeinden und Gemeinschaften aktiv sind – das war ja unser Auswahlkriterium –, auch in Vereinen aktiv sein können, die früher in Verfassungsschutzberichten erwähnt wurden. Hinzu kommt: Die Erwähnung eines Vereins im Verfassungsschutzbericht lässt nicht darauf schließen, dass alle, die eine Jugendgruppe dieses Vereins besuchen, verfassungsfeindlich eingestellt sind. Der Berliner Verfassungsschutzbericht von 2019 schreibt zum Beispiel selbst über die salafistische Al-Nur-Moschee, die nicht an unserer Erhebung beteiligt war, dass der Anteil von Salafisten unter den Besuchern der Moschee bei 25 Prozent liege.
Die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balcı sagte, die Gemeinden „vertreten, leben und verbreiten ein reaktionäres Islam-Verständnis“. War Ihnen das vorher bekannt?
Man sollte diese zehn Gemeinden nicht über einen Kamm scheren und müsste differenzieren, inwiefern in diesen Gemeinden jeweils konservative, traditionelle oder reaktionäre Auslegungen des Islam vorherrschen oder nicht. Noch einmal: Es ging uns nicht darum, Moscheen und Vereine zu bewerten, sondern Jugendliche unter anderem in diesen Moscheen zu befragen, die nicht notwendigerweise die Ansichten eines Vorstands oder Imams teilen. Wir haben nicht mit diesen Gemeinden eine gemeinsame Studie erstellt, sondern wir haben in diesen Gemeinden Menschen befragt.
„Viele Befragte nicht als Deutsche wahrgenommen“
Zurück zu Ihren Studienergebnissen: Wie steht es um die soziale Einbindung muslimischer Schüler:innen?
Hier würde ich gerne auf zwei Ergebnisse aufmerksam machen: Auffällig sind, entgegen verbreiteter Stereotype, die Bildungsambitionen der Befragten. Fast zwei Drittel der Befragten besuchen ein Gymnasium – doppelt so viele wie im Berliner Durchschnitt. 181 der 211 Befragten, die auf diese Frage geantwortet haben, streben das Abitur oder Fachabitur an. Die Hälfte von ihnen hätte dann einen höheren Bildungsabschluss als die eigenen Eltern. Das spricht für eine starke soziale Einbindung. Zu denken gibt uns aber, dass viele der Befragten die Erfahrung machen, nicht als Mitglied der deutschen Gesellschaft anerkannt zu werden. Fast die Hälfte der Befragten sagt, sie würden nicht als Deutsche wahrgenommen.
Welche Schritte sind nötig, um Diskriminierungserfahrungen muslimischer Schüler:innen zu verhindern bzw. verringern?
Drei Punkte möchte ich hervorheben: Erstens geht erlebte Diskriminierung vor allem vom Schulpersonal aus. Hier besteht also ein Bedarf an Sensibilisierung und Diversitätskompetenz im Allgemeinen, nicht nur mit Blick auf muslimische Schüler:innen. Was den Umgang mit Religion in der Schule betrifft, fehlen häufig juristische Kenntnisse, aber auch religionskundliches Wissen und interreligiöse Kompetenz. Zweitens ist uns aufgefallen, dass sich ein problematisches Verständnis von vermeintlicher staatlicher Neutralität, demzufolge die Schule ein religionsfreier Raum zu sein habe, offensichtlich auch in Schulordnungen niederschlägt. Drittens wäre es hilfreich, wenn potentiell von Diskriminierung Betroffene einen leichteren Zugang zu zielgruppenspezifischen und auch mehrsprachigen Informationen und Unterstützungsangeboten bekommen könnten.
Prof. Dr. Dr. Joachim Willems ist Professor für Religionspädagogik am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Universität Oldenburg. Er ist Mitverfasser der Studie „Diskriminierungserfahrungen muslimischer Jugendlicher in Berliner Schulen„.
Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder.