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Gesellschaft

Kaddor: „Mir als Muslimin diese Frage zu stellen, ist eine Frechheit“

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Ein DTJ-Artikel, in dem Lamya Kaddor im Mittelpunkt stand, sorgte Anfang der Woche für große Diskussionen. Im Interview stellt die Islamwissenschaftlerin nun ihre Sicht der Dinge dar. (Foto: Dominik Asbach)

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Lamya Kaddor
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Am Montag veröffentlichte das DTJ einen Artikel, der in den sozialen Medien für rege Diskussionen sorgte. Im Mittelpunkt dabei stand Lamya Kaddor und ein WAZ-Artikel über eine Veranstaltung in Essen, an der sie teilgenommen hatte.

Im DTJ-Interview erklärt Kaddor nun, dass sie im WAZ falsch wiedergegeben worden sei. Für Kaddor, die ihr Verständnis vom Islam nicht als umstritten bezeichnen würde, stelle das eigenständige Bemühen um Rechtsurteilsfindungen aus den islamischen Quellen nicht nur einen „unumgänglichen, sondern einen fortwährenden Auftrag für die Muslime aller Generationen dar“.

Frau Kaddor, was ist Ihre Kritik am DTJ-Artikel, der in dieser Woche für rege Diskussionen sorgte?

Der Artikel ist handwerklich schlecht bzw. schlicht falsch und tendenziös. Er bewirkt durch die Wiedergabe ungeprüfter Aussagen eine gefährliche Verunglimpfung sowohl meiner Person als auch liberaler Muslime im Ganzen. Hier wird ein loser Artikel aus der Lokalausgabe der WAZ aufgegriffen, der eine angebliche Äußerung von mir aus einer Veranstaltung mit 250 Teilnehmern wiedergibt. Diese Äußerung habe ich so nicht getätigt, was selbst der Veranstalter öffentlich bestätigt hat. Saubere journalistische Arbeit hätte bedeutet, dass Sie vor Ihrem Bericht mit mir Kontakt aufnehmen. Das DTJ hat meine Kontaktdaten. Doch statt Kontakt aufzunehmen, wird selbst das ungeprüfte WAZ-Zitat von Ihnen aus dem Kontext gerissen und auf eine Aussage weiterverkürzt, von der man als Muslim genau weiß, dass diese einen Sturm der Entrüstung inklusive Drohungen und Beschimpfungen auslöst. Sie machen dieses falsche Zitat sogar noch zur Schlagzeile! Und dann schreiben Sie weiter, ich sei nach der breiten Kritik auf Facebook zurückgerudert. Ich bin mitnichten zurückgerudert. Von einer Aussage, die man nicht getätigt hat, kann man nicht zurückrudern.

Des Weiteren weist Ihr Beitrag inhaltliche Fehler auf: Ich unterrichte Islamischen Religionsunterricht und nicht Islamkunde. Um islamischen Religionsunterricht zu erteilen, benötigt man eine sogenannte Idschaza, die mir der Islamische Beirat NRW bereits vor zwei Jahren erteilt hat.

Schlussendlich verwenden Sie ein gehässiges Zitat von Bekir Yılmaz, der die Mitglieder des Liberal-Islamischen Bundes als „Witzfiguren“ bezeichnet. Diese Äußerung ist gelinde gesagt eine Unverschämtheit und lässt im Umkehrschluss einige Spekulationen darüber zu, auf welchem geistigen Boden der Präsident der Türkischen Gemeinde zu Berlin anscheinend steht. So eine „Berichterstattung“ geht gar nicht! Das hat mit seriösem Journalismus nichts zu tun.

Zurück zum WAZ-Artikel. Darin wurden Sie folgendermaßen wiedergegeben: „Eine türkischstämmige Kommissarin gibt die Frage besorgter Mütter wieder: „Woran erkenne ich, dass sich mein Kind radikalisiert?“ Lamya Kaddor antwortet: „Zum Beispiel wenn sie nicht mehr in die Disko rennen, sondern sie plötzlich fünf Mal am Tag beten.““ Stellen Sie hier nicht einen kausalen Zusammenhang zwischen Frömmigkeit und Radikalisierung her? Sind Muslime, die fünfmal am Tag beten, radikal?

Nein! Das ist ja das Absurde an der ganzen Sache. Ich bin in keiner Weise der Meinung, Muslime, die fünfmal am Tag beteten, seien radikal. Im Gegenteil. Es ist eine vollkommene Verkehrung meiner Haltung. Ich habe das längst ganz ausführlich und wiederholt dargelegt – zum Beispiel in meinem jüngsten Buch. Darin warne ich sogar eindringlich davor, Pflichtgebete oder Kopftuchtragen als radikal anzusehen. Das steht da ganz explizit: „Das bei einem Jugendlichen plötzlich einsetzende Einhalten von religiösen Geboten und Verboten spricht nicht automatisch für eine Radikalisierung. Nur weil jemand plötzlich fünfmal am Tag betet, ist er noch kein Salafist. Nur weil ein Mädchen beginnt, ein Kopftuch zu tragen, ist sie noch keine religiöse Fanatikerin. Und nur weil ein junger Mann sich einen Bart wachsen lässt, ist er noch lange kein gewaltbereiter Dschihadist. Ich kann es nicht oft genug betonen: Ein frommer Muslim muss kein Salafist sein, und wir alle sollten darum bemüht sein, das auseinanderzuhalten.“

Es geht im Kontext des Salafismus allein um einen abrupten Sinnes- und Handlungswandel, also um eine „plötzliche“, „komplette“ Veränderung der Verhaltensweisen. Und auch da schränke ich ein, dass so eine Veränderung allein noch niemanden zum radikalen Gläubigen macht.

Wir waren teilweise überrascht über die Intensität, mit der die Diskussion über Ihre Aussagen in den sozialen Medien geführt wurde. Erklären Sie sich diese nur mit der Emotionalität, die viele mit dem Thema Islam verbinden oder glauben Sie, dass auch andere Ursachen dafür verantwortlich sind? Falls ja, welche?

Es erübrigt sich, näher auszuführen, dass ich gerade, weil ich als Muslimin öffentlich auftrete, ständig angefeindet werde. Natürlich ist das Thema „Islam“ ein absolutes Reizthema und das nicht nur für andersglaubende Mitmenschen. Wir Muslime reagieren selbst viel emotionaler auf die Islamdebatten. Wir sind schließlich davon betroffen. Das gilt insbesondere für unsere Glaubensgeschwister türkischer Herkunft, die die größte Gruppe der Muslime in Deutschland ausmachen. Schon die Großelterngeneration hatte es schwer, in Deutschland als Türken angenommen zu werden. Früher hieß es „die Türken“, heute sind es „die Muslime“. Diese ständige und anhaltende Diskriminierung hinterlässt bei uns Spuren und findet sich in unser aller Erziehung und Sozialisation wieder. Solange in Deutschland darüber diskutiert wird, ob der Islam oder doch nur die Muslime zu Deutschland gehören oder nicht, fühlen wir uns ausgegrenzt und reagieren auch mal emotional.

Ich glaube zudem, manche Reaktionen fallen deshalb so heftig aus, weil ich mit den Positionen, die ich als hier geborene Frau muslimischen Glaubens verkörpere, viele überfordere. Viele Muslime wissen zu wenig über unsere Religion und Religionsgeschichte. Sie fühlen sich bedroht. Sie denken, ich würde „den“ Islam abschaffen oder verändern wollen. Im Gegenteil. Ich knüpfe an den Geist der islamischen Geschichte an. Der liberale Ansatz, den ich und andere vertreten, ist ganz klar in unserer Theologiegeschichte angelegt. Nehmen sie als Beispiel nur die Toleranz gegenüber anderen Religionsauffassungen. Jeder, der sich nur etwas näher mit der Geschichte des Islam auskennt, weiß das.

Sie haben viele Befürworter, aber auch Kritiker. Würden Sie sich selbst und Ihr Verständnis des Islams als „umstritten“ bezeichnen? Ist Provokation ein Mittel, auf das Sie setzen, um öffentliches Interesse für Ihre Inhalte zu bekommen?

Mein Verständnis vom Islam würde ich nicht als umstritten bezeichnen. Wie gesagt, es kommt aus der Geschichte des Islam selbst. In der jüngeren Vergangenheit wurde dieses Erbe jedoch zugeschüttet. Vielen Muslimen fällt es heute schwer zu akzeptieren, dass kein Mensch „den wahren Islam“ kennt, dass niemand Eindeutigkeit vorgeben kann, sondern dass für uns als Muslime nur unterschiedliche Zugänge zu unserer Religion möglich sind.

Umstritten bin ich allenfalls, weil ich mich einmische, kritisiere und weil ich will, dass liberale Muslime partizipieren. Da geht es um gewöhnliche Machtfragen, um Vertretungsansprüche, Einfluss und dergleichen. Andere sollen ein Stück weit Platz machen, nicht verschwinden. Aber selbst das wollen einige nicht, deshalb werden immer wieder meine Worte verdreht, um sie gegen mich zu verwenden. Wie in diesem Fall hier.

Was die Frage nach Provokation betrifft: Das war und ist nie ein Mittel gewesen, auf das ich setze. Manchmal trage ich meine Positionen direkt, vielleicht auch zu schroff vor. Aber ich setze ganz klar auf Differenzierung und Sachlichkeit. Das zeigen alle meine Arbeiten. Und das gilt auch für meinen Buchtitel „Zum Töten bereit“, der in diesem Kontext gerne polemisierend herausgegriffen wird. Die Jugendlichen, über die ich schreibe, sind oder waren nun einmal „zum Töten bereit“ – im wahrsten Sinne des Wortes.

Sehen Sie das Pflichtgebet und allgemein die sogenannten fünf Säulen des Islam als eine verbindliche religiöse Pflicht? Falls nein, was ist Ihre theologische Begründung?

Für mich als gläubige Muslimin stellt das fünfmalige Pflichtgebet die zweite Säule des Islams dar. Selbstverständlich stelle ich auch keine der anderen Säulen infrage. Das ist lächerlich. Liberale islamische Theologie befasst sich schwerpunktmäßig mit den religiösen Ansichten über die Beziehungen von Menschen untereinander, nicht mit der Beziehung zwischen Gott und den Menschen.

Unabhängig davon, wie man religiöse Quellen deutet, glauben Sie an die göttliche Offenbarung an den Propheten Muhammad und die Verbindlichkeit dieser für einen Muslim?

Mir als Muslimin diese Frage zu stellen, ist im Kontext dieses Interviews im Grunde eine erneute Frechheit. Ich glaube, dass es keinen Gott außer Gott gibt und dass Muhammad sein Gesandter ist.

Im Islam gibt es keine vergleichbare Institution wie die Kirche und keinen Klerus, welcher die Deutungsmacht über die religiösen Quellen besitzt. Es ist jedem selbst überlassen, ob er sich einer Rechtsschule/Tradition anschließt oder aber eigene Methoden entwickelt, die Quellen gegenwartsbezogen zu deuten. Sehen Sie sich einer bestimmten Tradition/Rechtsschule verbunden oder entwickeln Sie eine eigene Methode? Was sind die wissenschaftlich-theologischen Prinzipien Ihrer Methode?

Meine Eltern haben mich weitgehend nach traditionellem, schafiitischem Glaubensverständnis erzogen. Das ist das religiöse Umfeld, aus dem ich komme. Ich verwende die gleichen Rechtsmethoden wie andere islamische Gelehrte. Eine eigene Rechtsmethode, die ich als solche kennzeichnen würde, habe ich somit nicht.

Für mich gibt es unter den klassischen Islamgelehrten allerdings keine verbindlichen Autoritäten. Es waren alles Menschen, die zum einen Fehler machen und zum anderen nicht über das Wissen verfügen konnten, das wir im 21. Jahrhundert haben. Zudem betone ich eine historisierende-kontextualisierende Lesart des Korans. Ohne den historischen, philologischen, biographischen, jüdisch-christlichen Kontext rund um den Propheten Muhammad lässt sich der Koran als Offenbarung Gottes weder verstehen, noch Jahrhunderte später leben. Und deshalb stellt für mich das eigenständige Bemühen um Rechtsurteilsfindungen aus den islamischen Quellen nicht nur einen unumgänglichen, sondern einen fortwährenden Auftrag für die Muslime aller Generationen dar.

Sie haben ein Buch über deutsche Jugendliche, die in den Dschihad ziehen, geschrieben und berichten, dass fünf Ihrer Schüler sich radikalisiert haben. Machen Sie sich im Rückblick Selbstvorwürfe?

Natürlich war das ein Schock für mich. Und natürlich fragt man sich selbst, ob man versagt hat. Aber zwischen der Zeit, als sie meinen Unterricht besucht haben, und ihrer Radikalisierung liegt eine große Zeitspanne. Sie haben sich nicht als meine Schüler, sondern als meine Ex-Schüler radikalisiert. Ich hatte also längst keinen direkten Einfluss mehr auf sie. Aber auch davon abgesehen können ein paar Stunden Islamunterricht pro Woche keine Garantie sein. Wir schaffen es auch nicht, mit Politik-, Geschichts- und Sozialkundeunterricht in der Schule zu verhindern, dass junge Menschen Neonazis werden. Da darf man die Möglichkeiten der Schule nicht überschätzen. Die Schule kann nur mithelfen, dass weniger Menschen in den Radikalismus abgleiten, ganz verhindern kann sie das niemals. Und im Übrigen befasse ich mich nicht erst seit der Erfahrung mit diesen fünf Schülern mit dem Thema Salafismus bzw. islamischem Fundamentalismus in Deutschland, sondern seit mehr als zehn Jahren.

Kann man Radikalisierungsprozesse überhaupt verhindern? Wer trägt Verantwortung an der Radikalisierung: Eltern, Lehrer, Schule, Soziales Umfeld, Medien, Internet…?

Die Verantwortung für die Radikalisierung tragen viele. Schuld ist aber in der Regel zunächst das Elternhaus und das persönliche Umfeld. Junge Menschen sind vor allem dann empfänglich für Radikalisierung, wenn ihnen die primären Bezugspersonen Probleme bereitet haben. Wir wissen aus Untersuchungen, dass viele Salafisten, vor allem ein schwieriges oder gar kein Verhältnis zu ihren Vätern gehabt haben. Ein weiteres zentrales Moment ist das Thema Islamfeindlichkeit. Viele Salafisten, mit denen man reden konnte, berichten, dass sie Wut oder Unzufriedenheit über eine als ungerecht und diskriminierend empfundene Behandlung durch die Mehrheitsgesellschaft gespürt haben.

Sie schildern den Weg junger Menschen in den Salafismus und in den Dschihad als einen „Akt der Rebellion“. Was treibt die jungen Menschen in die Rebellion? Wogegen rebellieren sie? Was ist Ihre Position/Erklärung? Wie radikalisieren sich Jugendliche und was ist Ihr Lösungsvorschlag?

Die Rebellion richtet sich häufig gegen das Elternhaus und/oder gegen die Gesellschaft, in der jemand groß geworden ist. Die Radikalisierung verläuft zumeist über zwei Wege: über persönliche Kontakte, über Freunde, Bekannte und/oder über das Internet. Dagegen muss man insbesondere die Aufklärung der jungen Menschen und ihrer Familien stellen sowie all jene für die Problematik sensibilisieren, die mit jungen Menschen zu tun haben – Lehrer, Sporttrainer, Jugendarbeiter, Imame etc.

Sie haben lange Jahre im LIB mitgewirkt. Nun wurde das Muslimische Forum Deutschlands gegründet. Sie sind Gründungsmitglied. Welche Ziele hat die Plattform?

Ich bin Vorsitzende des LIB. Und ich habe als Privatperson einen Text anlässlich einer Gründung eines Forums „mit“-unterzeichnet. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn Sie nähere Informationen über das Forum wollen, wenden Sie sich bitte an dessen Sprecher.

Kritiker behaupten, der Zweck von Initiativen wie dem „Muslimischen Forum Deutschlands“ sei es, den Islam so weit „aufzuweichen“, bis er der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft genehm ist. Was ist Ihre Antwort auf diese Kritik?

Wie gesagt, wenden Sie sich an den Sprecher des Muslimischen Forums Deutschland.