Gesellschaft
„KHK“: Am Rande der türkischen Gesellschaft
Die Türkei nimmt es spätestens seit dem Putschversuch vor dreieinhalb Jahren nicht so genau mit den Menschenrechten. Vieles ist bekannt, darunter Vorwürfe von Entführungen und Folter. Aber ebenso vieles ist verhüllt in einen schier undurchdringlichen Schleier. Darin geschehen große Menschenrechtsverletzungen, die öffentlich kaum bekannt sind. Eine bestimmte Gruppe führt ein besonders schwieriges Leben. Ein Beitrag über die Situation der sogenannten KHK’ler.
Im November meldete sich Bülent Arınç mal wieder zu Wort. Der einstige Weggefährte des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und AKP-Mitgründer war viele Jahre einer der wichtigsten Vertrauten im Umfeld Erdoğans. Doch seit einigen Jahren haben sie öfters Streit, der sich bislang aber auch immer wieder gelegt hat. Diesmal hat Arınç von einer Katastrophe in der Türkei gesprochen und Erdoğan erneut verärgert. Der 71-jährige sprach das Schicksal der sogenannten „KHK’ler“ an, einer Gruppe von ehemaligen türkischen Staatsbeamten.
Bülent Arınç: „KHK eine Katastrophe“
Diese Personen wurden nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 im Ausnahmezustand per Dekret vom Dienst suspendiert und zu Zehntausenden auch inhaftiert. KHK steht dabei für „Karar hükmünde kararname“. Über sie sagte Arınç im Interview mit der staatlichen Nachrichtengentur Anadolu: „KHK ist eine Katastrophe. In meinem Umfeld kenne ich so viele Betroffene, die diese Katastrophe erleben. Sie tun mir leid. Eigentlich entschuldige ich mich bei ihnen“. Die Reaktion des AKP-Chefs ließ nicht lange auf sich warten. Erdoğan bedauerte die Aussagen von Arınç, der es ja „als Jurist eigentlich besser wissen“ müsse. „Das war unschön, das kann man nicht akzeptieren“, so der Präsident deutlich.
Das schwierige Leben als KHK’ler
Als „KHK’ler“ werden Personen bezeichnet, die per Notstandsdekret aus ihrem Staatsdienst suspendiert und zum Teil verhaftet wurden. Doch mit der Entlassung aus dem Dienst oder der Freilassung aus dem Gefängnis kehren sie nicht in ihr gewohntes Leben zurück. Denn sie sind mit dem Dekret von Staatspräsident Erdoğan quasi verdammt.
Sie bekommen in ihren Sozialversicherungsnummern einen entsprechenden Vermerk hinterlegt. Dabei handelt es sich um eine Kennziffer. Mit dieser Zahl können sämtliche Arbeitgeber, staatliche Behörden und Banken erkennen, ob jemand schon mal per Dekret entlassen wurde. Ohnehin ist ihre Rückkehr in den Staatsdienst per se ausgeschlossen. Ihnen wird nicht mal ein Ausweis ausgestellt. Staatliche sowie private Banken vergeben ihnen keine Kredite. Den per Dekret Entlassenen wird vereinzelt sogar die Eröffnung einfacher Konten verweigert. Wegen der Kennung neben der Sozialversicherungsnummer will sie niemand einstellen. Selbst Verwandte und Freunde wenden sich ab. Somit leben die „KHK’ler“ ein äußerst isoliertes Leben.
KHK TV will Aufklärungsarbeit leisten
Rund 150.000 „KHK’ler“ soll es geben. Eine Vielzahl von ihnen hat oder hatte Verbindungen zur Gülen-Bewegung, die von Ankara inzwischen als Terrororganisation eingestuft wird. Alle anderen gehören überwiegend alevitischen, kurdischen und linken Gruppierungen an. Da sie fast nirgends Gehör finden, haben sie Schwierigkeiten, von ihren Problemen zu berichten. Um auf ihre Situation trotzdem aufmerksam zu machen, haben Betroffene nun einen YouTube-Kanal ins Leben gerufen. Der Kanal heißt „KHK TV“ und veröffentlicht Interviews mit Betroffenen.
Kein Recht auf Geld und eigenes Konto
Das Exil-Medium Bold wartete kürzlich mit einem ausführlichen Bericht auf, das sich mit der Situation der „KHK’ler“ befasst. Darin kommen Betroffene wie Suzan Uzpak zu Wort. Die per Dekret entlassene Lehrerin kann nach eigenen Angaben keine Arbeit mehr finden. Aufgrund finanzieller Nöte habe ihr Bruder aus dem Ausland Geld auf ihr Konto überwiesen. Doch die Bank habe die Auszahlung verweigert. Sie sei laut System der Bank als „gesperrt“ gekennzeichnet.
In einem anderen Fall hatte die private Garanti Bank, eine Tochtergesellschaft der spanischen Banco Bilbao Vizcaya Argentaria (kurz BBVA), einem per Dekret Entlassenen die Eröffnung eines gewöhnlichen Kontos verweigert. Euronews berichtete darüber. Im Anschluss sah sich die Bank gezwungen, doch einzulenken. Zwar bekam die Person ein Konto, allerdings eine sehr limitierte Version mit wenigen Funktionen. Online-Banking und Kredite seien von der Nutzung ausgeschlossen. Dies teilte die Bank schriftlich mit. Der Betroffene veröffentlichte das Schreiben auf Twitter. Danach wurde der Shitstorm nur noch größer und die Bank musste auch die Einschränkungen aufheben. Dennoch zeigt dieser Fall deutlich, wie schwer das Leben als „KHK’ler“ in der Türkei ist.
Jede Woche mit Zweijährigem zur „KHK“-Mutter ins Gefängnis
Euronews hat auch eine junge Familie gefilmt, die von den Dekreten auf dramatische Weise betroffen ist. Elif Tuğral ist Mutter eines Kleinkindes. Zudem ist sie derzeit mit ihrem zweiten Kind schwanger. Laut ihrem Ehemann wird sie in weniger als einem Monat entbinden. Da ihr erstes Kind per Kaiserschnitt auf die Welt kam, muss sie auch das zweite Kind auf diesem Wege auf die Welt bringen. Das alles passiert jedoch im Gefängnis, da Elif Tuğral zu 6 Jahren und 10 Monaten Haft verurteilt wurde. In dem Euronews-Bericht erzählt ihr Mann, was der jungen Mutter vorgeworfen wird.
Anschuldigung auffällig oft „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“
Die Anschuldigung laute „Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation“. Begründet werde das mit einer Tätigkeit auf einer Schule und einem Konto bei der Bank Asya. Für die türkische Justiz reichen diese zwei Aspekte offensichtlich aus, um jemanden des Terrors zu verdächtigen und lange Jahre zu inhaftieren, so ein interner Lagebericht des Auswärtigen Amtes.
Der Mann von Elif Tuğral ist besorgt, da die Geburt kurz bevorsteht und ein Kaiserschnitt gut geplant sein muss. Er besucht mit seinem Sohn jede Woche die Mutter in der Haft. Der umständliche Weg dauert rund drei Stunden, pro Strecke sind es drei Umstiege. Das Kind sei ständig krank, auch weil sie sich in dieser kalten Jahreszeit jeweils früh morgens auf den Weg machen müssten, damit sich der Besuch zeitlich überhaupt lohne.
Mutter & Sohn für fünf Stunden die Woche
Eine Stunde vor der Sichtzeit gebe der Vater ihren Sohn zu der Mutter ins Gefängnis. Dann treffe sich die Familie für eine Stunde im Gefängnis. Anschließend bleibe der kleine Junge noch weitere zwei bis drei Stunden bei seiner Mutter und kehre zum Schluss mit seinem Vater wieder nach Hause zurück.
Welche Langzeitfolgen dieses Drama haben wird, ist bisher nicht absehbar, doch der Fall der Familie Tuğral lässt nur Ungutes erahnen. Es ist schwer auszumalen, was in dem Kopf dieses kleinen Jungen vorgeht. Die seit ihrer Entlassung per Dekret in Haft sitzende und hochschwangere Mutter hingegen wird Gewiss mit Wut für die verlorene Zeit irgendwann wieder frei sein. Dabei ist Elif Tuğral nur eine von vielen Zehntausenden „KHK’lern“ in der Türkei…