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Politik

„Alle politisch Verfolgten in der Türkei müssen sofort frei kommen“

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In der Türkei finden derzeit wieder Massenverhaftungen statt, die Stimmung ist hochexplosiv. Die HDP wird neben der PKK für den Tod von 13 entführten Türken verantwortlich gemacht. „Die innenpolitischen Entwicklungen sind sehr beunruhigend“, sagt Dietmar Köster. Im Interview mit DTJ-Online blickt der EU-Parlamentarier (SPD) kritisch auf die EU-Türkei-Politik. Bei den Themen Menschenrechte und der Unabhängigkeit der türkischen Justiz findet er deutliche Worte.

Herr Köster, was bedeutet die Türkei für Deutschland und die Europäische Union (EU) auf dem Parkett der internationalen Beziehungen?

Grundsätzlich ist und bleibt die Türkei ein wichtiger internationaler Partner der EU. Eine menschenrechtsfundierte Außenpolitik gegenüber der Türkei ist ein zentraler Bestandteil der EU-Nachbarschaftspolitik. Mit der Verletzung von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Prinzipien entfernt sich die Erdoğan-Regierung leider von der EU.

Das ist bitter für die vielen Türk:innen, die sich an Europa orientieren. Wie können Sie dieser ideologischen Distanz entgegenwirken?

Umso wichtiger ist der Kontakt mit der türkischen Zivilgesellschaft, die sich für Bürgerrechte und eine demokratische Türkei engagieren. Die Türkei trägt mit ihren militärischen Interventionen in Syrien, Libyen, der Konfrontation mit Griechenland und dem Eingreifen in dem Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht zu einem friedlichen Zusammenleben in der Region bei. Das Verhalten der türkischen Regierung muss einen Exportstopp von Rüstungsgütern zur Folge haben.

„EU-Beitritt der Türkei immer unwahrscheinlicher“

Das sind deutliche Worte, gerade von Brüssel aus. Wie ist Ihre Position zu einem EU-Beitritt der Türkei? Warum ruft das Thema EU-Beitritt in der Türkei so große Emotionen hervor?

Mit der Verletzung von Bürgerrechten, willkürlichen Verhaftungen, dem Verschwindenlassen von demokratischen Oppositionellen entfernt sich die Türkei von der Zivilisation. Daher ist ein EU-Beitritt der Türkei, auch angesichts des Konflikts mit Griechenland, der sich glücklicherweise aktuell entschärft hat, leider immer unwahrscheinlicher. Die Verbesserung des EU-Türkei-Verhältnisses ist nur möglich, wenn die türkische Regierung sich an die Menschen- und Bürger:innen-Rechte hält und rechtsstaatliche Prinzipien einhält. Diese mangelnde Rechtsstaatlichkeit und die Missachtung von demokratischen Grundsätzen durch die Regierung sowie ihr außenpolitischer Eskalationskurs, haben in den vergangenen Jahren enorm zugenommen und stehen einem potenziellen EU-Beitritt im Weg.

Sie sprechen es an: Nach Böhmermann-Affäre, Armenien-Resolution und Bergkarabach – wie zerrüttet ist das europäisch-türkische Verhältnis?

Innen- und außenpolitische Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit belasten das europäisch-türkische Verhältnis erheblich. Die innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei, insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch von 2016, sind sehr beunruhigend und nicht mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vereinbar.

„Meinungsfreiheit muss in der Türkei gelten“

Wenn ich beim Thema Rechtsstaatlichkeit einhaken darf: Wie steht es um die Unabhängigkeit der Gerichte in der Türkei?

Die Unabhängigkeit der Justiz ist nicht länger gewährleistet, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Fällen von Selahattin Demirtaş oder Osman Kavala wurden von der türkischen Justiz ignoriert oder untergraben. Auch die jüngsten Gesetzesreformen, beispielsweise das neue Social-Media-Gesetz und das Terrorismus-Gesetz, schränken die Meinungs- und Pressefreiheit deutlich ein. Erdoğans Umgang mit der Opposition und demokratisch legitimierten, gewählten Bürgermeister:innen und Abgeordneten ist vollkommen inakzeptabel. Die Verfolgung kritischer Journalist:innen muss sofort eingestellt werden. Die Meinungsfreiheit muss auch in der Türkei gelten.

Ist eine gute Nachbarschaft mit der EU also ausgeschlossen?

Neben den innenpolitischen Entwicklungen sind auch die zunehmende Eskalation zwischen der türkischen Regierung und EU-Mitgliedstaaten, sowie die militärischen und expansionistischen Ambitionen Erdoğans, etwa in Zypern, Bergkarabach, Nordsyrien und dem östlichen Mittelmeer Gründe für das zerrüttete Verhältnis. Eine gute Nachbarschaft mit der EU ist ausgeschlossen mit dem Streben der türkischen nach militärischer Dominanz im Mittleren Osten.

„Alle politisch Verfolgten müssen sofort frei kommen“

Anders gefragt: Welche Möglichkeiten sehen Sie, die Beziehungen in den nächsten Monaten oder auch Jahren wieder zu verbessern?

Die EU und die EU-Mitgliedsstaaten müssen sich solidarisch mit der türkischen Bevölkerung und Zivilgesellschaft zeigen. Eine verstärkte Kooperation mit den demokratischen Kräften in der Türkei steht im Vordergrund. Alle politisch Verfolgten in der Türkei müssen sofort frei gelassen werden. Es tauchen immer wieder Vorwürfe auf, dass politische Gefangene gefoltert wurden. Hier wird eine rote Linie überschritten. Ein konstruktiver Dialog mit der türkischen Regierung wird immer schwieriger, um weitere Eskalation zu verhindern. Die Stärkung der demokratischen Kräfte und der Zivilgesellschaft spielt eine zentrale Rolle dabei, die Opposition von Erdoğan zu stützen. Daher ist es notwendig, dass die EU und das Europäische Parlament sich weiterhin für Aktivist:innen wie Selahattin Demirtaş und Osman Kavala einsetzen. Eine Verbesserung der Beziehungen zur Türkei hängt stark von der weiteren Entwicklung in der Türkei selbst ab.

Unabhängig von den Verhältnissen innerhalb der Türkei, setzt die EU in der Flüchtlingsfrage voll auf Erdoğan. Wie sehen Sie das aus Menschenrechtssicht?

Es ist für die EU beschämend, dass die Türkei weitaus mehr Flüchtlinge aufgenommen hat als die gesamte EU. Hier wird die EU einer solidarischen menschenrechtsfundierten Flüchtlingspolitik nicht gerecht. Die Kooperation der EU mit der Türkei und anderen EU-Nachbarstaaten ist aus Menschenrechtssicht höchst bedenklich. Grundsätzlich sind Kooperation und finanzielle Unterstützung von Nachbarstaaten für die Aufnahme und Versorgung von Flüchtenden sinnvoll.

Der Vorwurf steht im Raum, die EU entziehe sich durch solche Kooperationen ihrer Verantwortung, wenn es um Flucht und Migration geht. Stimmt das?

Ja, der sogenannte Türkei-Deal zeigt dies deutlich. Er ist mitverantwortlich an der schlimmen Situation der Schutzsuchenden an der türkisch-griechischen Grenze. Pushbacks, die dort stattfinden, verstoßen gegen internationales, europäisches und nationales Recht. Diese Praxis muss sofort aufhören. Dass sie endlich geahndet wird, dafür setze ich mich ein.

Vielen Dank für das Gespräch!

Die türkische Fassung des Interviews finden Sie übrigens hier.

Der Europaparlamentarier Prof. Dr. Dietmar Köster (SPD) setzt sich in Brüssel für Menschenrechte und Demokratie in Europa und der Welt ein.

Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder. 

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