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Politik

Warum wurde der russische Kampfjet überhaupt abgeschossen?

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Der Abschuss eines russischen Jets hat schwere politische Verwerfungen zur Folge. Doch warum erfolgte er überhaupt? Eine militärische Bedrohung war er mitnichten und falls die Regierung Einfluss auf den Abschuss hatte, muss man sich fragen, welche Kalkulation dahinersteht.

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KOMMENTAR Durch den Abschuss des russischen Su24-Kampfjets an der türkisch-syrischen Grenze haben die Beziehungen zwischen Ankara und Moskau einen schweren Schlag ins Kontor erlitten. Die mittel- bis langfristigen Folgen des Vorfalls sind noch nicht absehbar. Putin markiert den starken Mann und gibt der Türkei eine kleine Kostprobe seiner Macht, indem er die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder drosselt. Das Verhalten der türkischen Regierung ist wie so oft erratisch: Erst will man die Bedeutung des Ereignisses herunterspielen und deeskalieren, einen Tag später wird dann in Richtung Putin geätzt. Man solle erst einmal Beweise vorlegen, dass die Türkei den IS unterstütze. Am selben Tag wird ein Haftantrag gegen Can Dündar gestellt, weil der Cumhuriyet-Chefredakteur mit seiner Zeitung Waffenlieferungen des türkischen Staates an den IS aufgedeckt hatte. Was für eine Heuchelei!

Die Türkei hat sich mit dem Abschuss des russischen Kampfjets einmal mehr in ein diplomatisches Labyrinth manövriert, dessen Ausgang noch niemand gefunden hat. Wie ist die türkische Regierung in diese Situation geschlittert? Nach türkischer Lesart hat der russische Kampfjet den türkischen Luftraum mehrfach verletzt und wurde nach vielfacher unbeantworteter Warnung abgeschossen. Völkerrechtlich ist das ein legitimer Vorgang. Doch nicht alles, was de jure rechtens ist, ist auch politisch (geschweige denn militärisch) klug. Selbst wenn man die türkische Version des Ereignisses unhinterfragt glaubt, drängt sich die ein oder andere Frage auf. Auf dem Radarplot, den CNN Türk nach dem Abschuss des Flugzeuges veröffentlicht hat, ist die Flugroute des russischen Kampfjets zu sehen. Er ist auf einer runden Flugbahn knapp unterhalb der türkischen Grenze entlang geflogen. Dabei hat er offensichtlich mehrmals einen drei Kilometer breiten Korridor türkischen Territoriums überflogen, der wie ein Zipfel nach Syrien hineinragt.

 

Man muss sich doch die Frage stellen, weshalb es notwendig gewesen sein soll, dieses Flugzeug abzuschießen. Wäre er geradezu auf die türkische Grenze zugeflogen und tief in türkisches Hoheitsgebiet eingedrungen, wäre die Frage schon leichter zu beantworten. Aber das Flugzeug einer angeblich befreundeten Nation („unsere Freunde und Nachbarn“), das für die Dauer von wenigen Sekunden mehrfach einen drei Kilometer breiten Zipfel überfliegt? Sollte der russische Pilot tatsächlich so oft nicht auf die Warnungen reagiert haben, ist das natürlich eine erhebliche Provokation. Aber die internationale Politik kennt viele Wege, gegen solche Provokationen zu protestieren – nicht zuletzt für einen NATO-Staat. Und mag es auch völkerrechtlich vertretbar gewesen sein, das Flugzeug vom Himmel zu holen: Eine militärische Bedrohung ging von ihm mit Sicherheit nicht aus.

Was hat die türkische Regierung also durch den Abschuss gewonnen? Man hört schon wieder die Unkenrufe: Sich nichts gefallen lassen! Die nationale Ehre verteidigen! Aber kann es das sein? Sollte internationale Politik, noch dazu in einem so sensiblen Bereich, nicht auf rationaleren Schlüssen beruhen?

Wer hatte den Finger am Abzug?

Eine Frage bleibt dabei unbeantwortet: War die Regierung in den entscheidenden Minuten zugeschaltet, war sie überhaupt informiert? Natürlich, die Einsatzvorschriften hat Premierminister Davutoğlu bereits vor Wochen festgelegt, wie er am Mittwoch bestätigte. Aber wer hat den endgültigen Abschussbefehl erteilt, ein Regierungsverantwortlicher oder ein Offizier der Luftwaffe? Es ist natürlich gut möglich, dass der Befehl von einem Oberst mit zittrigem Zeigefinger gegeben wurde. Aber wäre es dann nicht auch unverantwortliches Verhalten oder mangelhafte militärisch-politische Kommunikationsstruktur, wenn er in einer Situation, in der ein Flugzeug das eigene Territorium streift, ohne eine akute militärische Gefahr darzustellen, einfach einen Abschuss befiehlt, ohne politische Entscheidungsträger einzuweihen? Ich weiß nicht, ob wir darauf eine endgültige Antwort erhalten werden.

Denkt man jedoch ausgehend von der Vermutung weiter, dass die türkische Regierung eine gewisse Kontrolle über das Ereignis hatte, es vielleicht sogar geplant war (wofür Putin Belege zu haben behauptet), dann wird es noch interessanter.

Es schien sich in den letzten Wochen eine vertiefte internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS anzubahnen. Bisher haben alle irgendwie, aber keiner so richtig und wenige in Absprache mit den jeweils anderen gegen den IS gekämpft. Die Türkei gehört formell der Anti-IS-Koalition an, aber nicht umsonst wird kritisiert, dass die türkischen Luftschläge bisher beinahe ausschließlich gegen PKK-nahe kurdische Einheiten gerichtet waren und nicht gegen Baghdadis Barbarenbande. Die wiederum ließ man im eigenen Land unbehelligt walten und sogar über die eigene Grenze hinweg Handel treiben. So viel zur unverletzlichen Grenze, die gegen den russischen Kampfjet verteidigt werden musste.

Lieber IS als YPG?

Es ist kein Geheimnis, dass Erdoğan und seine Loyalen die kurdische YPG in Syrien als eine viel größere Bedrohung empfinden als den IS, die für Premierminister Davutoğlu ja noch vor kurzer Zeit „keine Terrororganisation, sondern eine Gruppe wütender Menschen“ war. Der türkischen Regierung sind die Steinzeitextremisten an ihrer Südflanke offenbar lieber als ein im Entstehen begriffener kurdischer Staat, der von Verbündeten der PKK geführt wird. Gleichzeitig kritisiert Erdoğan Russland dafür, dass der IS in der Region, in der das Flugzeug abgeschossen wurde, gar nicht aktiv ist. „Niemand sollte den anderen etwas vormachen“, sagte er heute in Richtung Putin. Und schon wieder: Was für eine Heuchelei!

Wäre eine Stärkung der internationalen Koalition und daraus folgend eine effektivere Bekämpfung des IS also den Zielen der türkischen Regierung abträglich? Wenn sich der NATO-Staat Türkei gegen russische Aggressionen zur Wehr setzen muss, sieht das nicht gerade nach einer potentiellen Rolle Russlands als Partner der NATO im Kampf gegen den IS aus, was Verhandlungen über ein gemeinsames Vorgehen gehörig im Weg stehen dürfte. Hat sich die türkische Regierung also auf die Rückendeckung der NATO verlassen und gehofft, dass ein türkisch-russischer Konflikt die Intensivierung und Koordinierung der Angriffe auf den IS, der sich die Türkei nur umständlich würde entziehen können, erschweren würde?

Das alles sind nur Erwägungen, die dem türkischen Regierungshandeln im Angesicht der momentanen Gemengelage ein Interpretationsmuster geben sollen. Aber von der Hand zu weisen sind sie auch nicht. Es sieht auch gerade nicht danach aus, dass der gemutmaßte Plan aufgehen würde. Doch wäre es bei weitem nicht der erste außenpolitische Fauxpas Erdoğans. Die AKP-Regierung steht vor den Trümmern ihrer einst als visionär gefeierten Außenpolitik und vor allem mit Blick auf Syrien hat sich Erdoğan von Anfang an verrechnet. Wenn sein Plan aufgegangen wäre, wäre Assad im selben Tempo gestürzt wie Ben Ali, Mubarak oder Gaddafi. Ist er aber nicht. Stattdessen war er schon lange in keiner so guten Position mehr wie im Moment. Falls die türkische Regierung also irgendeinen Einfluss auf den Abschuss hatte, dann muss man neben den geopolitischen Kalkulationen auch einen anderen Grund für ihr Vorgehen in Betracht ziehen, der leider ziemlich banal ist: Vielleicht war es auch einfach nur ein weiterer außenpolitischer Fehler.