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Gesellschaft

Gülen-Bewegung: Zwischen Untergang und Aufbruch

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Die Hizmet-Bewegung hat schwer unter den Verfolgungen durch die türkische Regierung zu leiden, selbst in Deutschland. Ihre Mitglieder wissen, dass sie sich reorganisieren müssen – und dabei nicht die alten Fehler von früher wiederholen dürfen.

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„Sag Nein zu dem Unrecht!“, steht auf dem Bild, das Ismail Cingöz über seinen Twitter-Account an seine knapp 70 000 Follower postet. Noch vor einem Jahr war er Vorsitzender eines der größten humanitären Hilfsvereine der Türkei. Ende Dezember 2015 trat er dann vom Vorsitz des Vereins Kimse Yok Mu (türkisch für „Ist da niemand?“)  zurück, weil die Regierung ihn und seine Organisation als Teil der sogenannten „Parallelstruktur“ einstufte und bekämpfte. Der 2002 gegründete Verein ist aus der Hizmet-Bewegung entstanden und hat sowohl in der Türkei als auch weltweit Millionen von Menschen in Not geholfen. Armutsbekämpfung, Förderung von Schulbildung, Vergabe von Stipendien, Bekämpfung des Wassermangels in Afrika und Gesundheitsvorsorge sind nur einige Bereiche, in denen Kimse Yok Mu tätig war. Dafür wurde er nicht nur vom türkischen, sondern auch vom peruanischen Parlament ausgezeichnet.

Heute gibt es den Verein nicht mehr. Wenn man die Domain kimseyokmu.org.tr aufruft, erscheint die Meldung, dass die Seite nicht mehr existiert. Eigentum und Vermögen hat sich der türkische Staat unter den Nagel gerissen. Cingöz musste sich wie viele seiner hauptamtlichen und ehrenamtlichen Mitarbeiter ins Ausland absetzen, um einer Verhaftung zuvorzukommen. Viele von ihnen, zum Beispiel Mehmet Yılmaz*, sind als Flüchtlinge in Deutschland gelandet. Er war bis zu seiner Ausreise aus der Türkei am 3. August 2016 Leiter der Informationsabteilung von Kimse Yok Mu: „Eines unserer Projekte war die Gründung von 1000 Schulen in Afrika. Wir hatten auch einen Internationalen Architekturwettbewerb veranstaltet und bereits mit dem Bau von zehn Schulen begonnen. All das können wir jetzt nicht mehr angehen. Darüber bin ich trauriger als über das, was mir und meiner Familie widerfahren ist.“

Flucht und Neuorientierung

Der Anstieg der Flüchtlingszahlen aus der Türkei in Richtung Europa ist nur eine der Folgen der „Säuberungspolitik“, die die AKP-Regierung seit dem gescheiterten Putsch vorantreibt. Anhänger des muslimischen Gelehrten Fethullah Gülen sind davon besonders betroffen. Da Deutschland vielen dieser Verfolgten Unterschlupf gewährt, ist es für Ankara zum „Unterstützer von Terrorgruppen“ geworden. Erdoğans langer Arm macht jedoch auch vor den deutschen Grenzen keinen Halt. Auch hierzulande werden Gülen-Anhänger denunziert oder die Konsulate entziehen ihnen einfach den Pass. Die Einreise in die Türkei ist mit der Gefahr einer Verhaftung verbunden, nur weil man vielleicht Mitglied eines Vereins ist, der aus der Bewegung hervorgegangen ist. Das wiederum führt zu Rücktritten und Abmeldungen aus diesen Vereinen. Entsprechend geraten diese in Bedrängnis und sind auf der Suche nach einer Neuorientierung.

Als ich eine Einladung zur Dialog-Akademie des Dachverbandes „Dialog NRW“ bekam, um über die Hexenjagd der AKP-Regierung gegen die Hizmet-Bewegung und ihre Auswirkungen auf Deutschland zu referieren, habe ich zugesagt. Ich wollte bei dieser Gelegenheit nicht nur meine Erfahrungen und Beobachtungen einem breiten Publikum vortragen, sondern auch sehen, wie die Mitglieder der Bewegung mit der neuen Situation umgehen. Schließlich können viele von ihnen nicht mehr in die Türkei einreisen und nicht wenige ihrer Verwandten und Bekannten sitzen bereits im Gefängnis. Dazu kommen die Denunziationen und Anfeindungen aus dem nächsten Bekanntenkreis, denen sie ausgesetzt sind. Begleitet wurde ich von einem RBB-Kamerateam, das an einem Dokumentarfilm über die Auswirkungen des gescheiterten Putsches vom 15. Juli 2016 auf Deutschland arbeitet.

An der Veranstaltung nahmen mehr Menschen teil, als ich es erwartet hatte. Studenten, Akademiker, Vorstandsmitglieder von Hizmet-Vereinen aus ganz NRW; insgesamt 100 Personen hatten den Weg nach Geseke gefunden, um sich über die Zukunft der Dialogarbeit der Bewegung zu informieren, aber auch um darüber zu diskutieren, wie es in Deutschland weitergehen soll. Viele von ihnen sind mir bekannte Gesichter, da ich selbst aus dem Ruhrgebiet komme.

Viele Vereine verlieren nicht nur Mitglieder, sondern ganze Vorstände. Oder es fehlt an Finanzen und erfahrene Mitarbeiter müssen gekündigt werden. Dennoch wollen überzeugte Mitglieder der Bewegung wie Genç Osman Esen nicht von Untergangsstimmung sprechen. Ja, es seien schwierige Zeiten, und ja, es sei nicht einfach, dem nächsten Umfeld die eigenen Positionen zu erklären. Nichtsdestoweniger müsse man sich reorganisieren, Personen und Finanzen akquirieren. Eine dieser Reorganisationsmaßnahmen ist der Zusammenschluss aller Dialogvereine in NRW unter dem Titel „Dialog NRW“: „Wir werden in Zukunft viel stärker auf Ehrenamt setzen müssen“, sagt Esen. „Und gerade deshalb sind solche Wochenend-Akademien von besonderer Bedeutung: „Es ist uns ein besonderes Anliegen, allen Dialog-Engagierten ein Forum zum Austausch anzubieten, bei dem sie voneinander lernen und Kompetenzen für die Arbeit im interkulturellen und interreligiösen Dialog erwerben.“

Auch in Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und bei vielen Entscheidungsträgern herrschen Zweifel, ob es der Gülen-Bewegung tatsächlich nur um interkulturellen Dialog geht. Einer der Gründe hierfür ist die duale Wirklichkeit der Bewegung, auf die ich in meinem Vortrag eingegangen bin. Viele Außenbeobachter können nicht viel anfangen mit Sohbets und informellen Arbeitsgemeinschaften, den sogenannten Mütevellis, oder mit den Studentenwohnungen, die in den deutschen Medien unter dem mysteriösen Namen „Lichthäuser“ oft als Ort der Elitenbildung der Bewegung dämonisiert werden. Hier ist mehr Transparenz und Offenheit notwendig, nicht nur um Vertrauen aufzubauen, sondern auch um verlorenes aus der Vergangenheit wieder zu gewinnen.  Ein anderer Fehler war die fast bedingungslose Unterstützung der AKP  bis 2011. Diese Zeit hat die Gülen-Bewegung, die sich selbst als eine Bewegung ohne machtpolitische Ambitionen versteht, sehr stark politisiert und – gewollt oder ungewollt –  zum Akteur eines politischen Machtkampfs werden lassen.

Aus den Fehlern der Vergangenheit lernen

Den Schwerpunkt legte ich bei meinem Vortrag auf die Medienarbeit, die aus der Bewegung entstanden ist. Das, was Hunderte von Journalisten in den letzten 30 Jahren aufgebaut haben, hat die AKP-Regierung innerhalb von drei Jahren zerstört. Wie es in Deutschland mit der Medienarbeit weitergehen soll, ist auch eine Frage, auf die es noch keine Antwort gibt. Die Tageszeitung Zaman wird Ende November ganz eingestellt. Bereits im April 1990 kam sie nach Deutschland und hat in den zurückliegenden 26 Jahren enorm viel dazu beigetragen, dass das Bewusstsein über die Wichtigkeit der Bildung unter den Deutschtürken zunahm. Zudem war sie ein starke Stimme für den interkulturellen Dialog. Sie wird in der Zukunft fehlen. Wenn auch in Deutschland vieles nicht gerade einfach werden wird, ist das Land doch ein wichtiger Zufluchtsort für viele Hizmet-Anhänger geworden. Mittlerweile sollen über 1000 Hizmet-Mitglieder nach Deutschland geflüchtete sein, viele von ihnen haben Asyl beantragt. Es ist nicht das erste Mal in der jüngeren Geschichte, dass Deutschland für viele Türken zu einer neuen Heimat wird. Bereits nach früheren Putschen in der Türkei hatten sich türkische Regimekritiker, Akademiker, Journalisten und Schriftsteller nach Deutschland abgesetzt und hier eine neue Heimat gefunden.

Wenn man auf das Bild von Cingöz klickt, erscheint eine Homepage, auf der zu Solidarität und Hilfe für Opfer der türkischen Säuberungspolitik aufgerufen wird. Bei ihnen handelt er sich auch um Ehrenamtliche des Vereins Kimse Yok Mu, die versuchen, als KYM International in Europa neue Strukturen aufzubauen. Über 12 Jahre hat der Verein bedürftigen Menschen in der Türkei und weltweit geholfen. Heute sind seine Aktivisten zwar selbst auf Unterstützung angewiesen, möchten jedoch bei der ersten Gelegenheit ihre unvollendet Projekte wiederbeleben.

In der Türkei ist die Bewegung zerschlagen und nur noch im Untergrund aktiv. Die Zukunft der Bewegung außerhalb der Türkei ist von vielen Faktoren abhängig. Einer davon ist, ob sie aus den Fehlern der Vergangenheit – insbesondere in der Türkei – lernt und sie nicht wiederholt. Die Veranstaltung war ein Bemühen, Antworten auf diese Frage zu finden. Gefunden sind sie aber noch lange nicht.


* Name von der Redaktion geändert