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Kolumnen

Meine Türkei

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KOLUMNE Als ich zur Schule ging, entwickelte ich eine starke emotionale Beziehung zu Frankreich, auch wegen meiner hugenottischen Herkunft, der Vorfahren, die aus Glaubensgründen vertrieben worden waren und wegen der politischen Großwetterlage, in der die „Erbfeinde“ Frankreich und Deutschland in den 1960er Jahren zueinander fanden. Später kamen Großbritannien und die USA als Freundschaftsländer hinzu. Eine späte Entdeckung war für mich dann die Türkei, die ich erst vor gut 10 Jahren kennenlernte und die dann – vor allem wegen ihrer Menschen, des Auswanderungsschicksals der Deutschtürken – zum großen Thema in meinem Leben  wurde.

Ich lernte ein Land kennen, das sich einerseits auf dem Weg nach Westen befand, andererseits aber auch in sich ruhte, dank einer großen Geschichte, der Erfahrung von 400 Jahren als Weltmacht, der Rückkehr in die Weltgeschichte nach 1990 nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion. Man merkte den Menschen diese Erfolgsgeschichte an, unabhängig davon, wie ihr Bildungsgrad war. Sie verfügten über ein Selbstbewusstsein, das ich sonst nur von den Briten kannte, mit dem entscheidenden Unterschied, nicht arrogant oder überheblich zu wirken. Mir scheint, dass dies etwas mit der Religion zu tun hat. So, wie ich den Islam begreife oder glaube zu verstehen, stellt er ein Gesamtkonzept dar, er unterweist nicht nur im Glauben, sondern er bietet auch eine Lebensform an. Vor allem jene Menschen, die sich zu den Lehren von Fetullah Gülen bekennen, habe ich als die neuen Preußen der Bundesrepublik Deutschland erlebt. Dass viele von ihnen in Deutschland – wohlgemerkt nicht in der Türkei – in den letzten Monaten  in existentielle Nöte geraten sind, ohne dass die öffentliche Meinung davon Notiz nimmt, gehört zu den ganz bitteren Erfahrungen in meinem Berufsleben. Ich hätte dies noch vor kurzem nicht für möglich gehalten.

Die Warnsignale, die, beginnend vor etwa drei Jahren, an die Adresse meiner Freunde gingen, waren auch für mich nicht zu überhören. Aber ich hielt den Zug der Modernisierung, der vom Bosporus Richtung Ostanatolien brauste, für unaufhaltbar. Ich besuchte im Großraum Istanbul, der sich in Richtung bulgarischer Grenze immer weiter ausdehnte, Schulen und Universitäten mit engagiertem Lehrpersonal und hochkonzentrierten Schülern, ich sah einen technischen Ausstattungsgrad, wie ihn zur Zeit keine vergleichbare deutsche Einrichtung hat. Ich sprach mit den leitenden Redakteuren der Zeitung „Zaman“ und wähnte mich dabei zugleich in den Räumen der „New York Times“, meine türkischen Kollegen strahlten eine Internationalität aus, wie es sie in deutschen Zeitungsredaktionen nicht (mehr) gibt. Jedes Mal, wenn ich vom Flughafen in das Zentrum der größten europäischen Stadt fuhr, hatte sie sich deutlich verändert. In diesem Lande war eine Art von Wirtschaftswunder eingetreten, das in der Erfahrung und Wahrnehmung der Menschen möglicherweise alles in den Schatten stellte, was sich beim deutschen Wirtschaftswunder vor 50 Jahren ereignet hatte, möglich gemacht u.a. durch die türkischen Gastarbeiter.

Diese Aufbruchstimmung gibt es nun – zumindest in diesem Umfang und Ausmaß – in der Türkei nicht mehr. Sie ist durch die einsamen Entscheidungen eines Einzelnen außer Tritt gebracht worden, das riesige Land taumelt, und niemand kann vorhersagen, wohin. Aus der deutschen Erfahrung weiß man zumindest eines: kein moderner Staat auf der Welt kann es sich leisten, eine so große Zahl von fähigen und begabten Menschen auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen, wie dies in den letzten Wochen und Monaten in der Türkei passiert ist. Das wird sich rächen, und es rächt sich schon jetzt. Auch die Touristen bleiben aus, die Türkei wird einsamer. Sie wird auch deswegen (vorübergehend) einsamer werden, weil die Regierung die Netzwerke der türkischen Staatsbürger mit ihren europäischen Verwandten zerreißt. Am Ende wird dies nicht gelingen, und auch hier zeigt eine deutsche Erfahrung, warum. Selbst eine meterhohe Mauer vermochte es nicht, die persönlichen Kontakte der Deutschen zu unterbinden.

Von daher ergibt sich die Marschrichtung für Westeuropa: trotz aller Probleme mit Präsident Erdoğan unter keinen Umständen den Draht nach Ankara abreißen zu lassen. Es geht dabei nicht um den Präsidenten und jene, die sich aus Überzeugung oder Opportunismus nun um ihn scharren, oder alle die, die nun im Leben des Landes anstelle derjenigen treten, die ihre Arbeit, oft auch die Freiheit verloren haben, sondern um die Menschen. Das, was sich zur Zeit in der Türkei abspielt, kann nicht das letzte Wort der Geschichte sein.