Extremismus Gesellschaft

Zwölf Anrufe? Neue Hinweise auf Kontakt zwischen NSU-Zschäpe und Verfassungsschutz

  • April 9, 2025
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Zwölf Anrufe? Neue Hinweise auf Kontakt zwischen NSU-Zschäpe und Verfassungsschutz

Ein „Bild“-Bericht stellt neue Fragen zum NSU-Komplex: Die verurteilte Rechtsterroristin Beate Zschäpe soll mehrfach beim Thüringer Verfassungsschutz angerufen haben. Zudem gibt es Hinweise auf gelöschte Handydaten und Vertuschungsversuche durch das BKA.

Was wussten Polizei und Verfassungsschutz über den Verbleib des rechtsterroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) – und was stand in den Akten, die im Anschluss an dessen Entdeckung vernichtet wurden? Ein jüngst veröffentlichter Exklusiv-Bericht von „Bild“ könnte erneut offene Fragen aufwerfen.

Das Blatt will mit mindestens drei direkten Quellen aus der Bundespolizei gesprochen haben, die mit den Ermittlungen zu der neonazistischen Mordserie in den 2000er Jahren betraut waren. Diesen zufolge hatte die einzige Überlebende der Terrorgruppe, Beate Zschäpe, zwischen dem 4. und dem 8. November 2011 über mehrere SIM-Karten zwölfmal die Nummer des Thüringer Verfassungsschutzes gewählt.

Verfassungsschutz dachte 1998 an Anwerbung von Zschäpe

Die frühere Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Freistaat, Dorothea Marx, habe dies gegenüber „Bild“ im Kern bestätigt. Auch drei mit den Ermittlungen befasste Beamte aus Bund und Ländern bestätigten zwölf Anrufe Zschäpes bei Thüringens Inlandsgeheimdienst. Dies gehe auch aus Geheimakten hervor, die dem Ausschuss vorgelegen hatten.

Mit wem genau die 2018 zu lebenslanger Haft verurteilte Rechtsterroristin sprechen wollte und was der Sinn ihrer Kontaktaufnahme war, bleibt jedoch offen. Auch Marx will sich nach so langer Zeit nicht mehr erinnern können. Kurz vor dem Abtauchen der damals im Zusammenhang mit Bombenattrappen gesuchten Gruppe 1998 soll der Verfassungsschutz eine mögliche Anwerbung Zschäpes als V-Frau erwogen haben. Aufgrund eines nicht unerheblichen Alkoholproblems der Zielperson habe man davon aber Abstand genommen.

Am 4. November 2011 waren ihre Komplizen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Stunden nach einem Banküberfall tot in einem Wohnmobil in Eisenach aufgefunden worden. Zschäpe setzte die frühere gemeinsame Wohnung des Trios in Zwickau in Brand. Anschließend tauchte sie über mehrere Tage ab, ehe sie sich am 8. November in Jena den Behörden stellte. Durch die Versendung von CDs, auf denen die Taten dokumentiert waren, legte Zschäpe offen, dass sie und ihre Komplizen eine rechtsextreme Terrororganisation gebildet hatten. Als solche hatten sie aus rassistischen Motiven zwischen 2000 und 2006 wahllos acht türkische und einen griechischen Einwanderer erschossen. Auch der Mord an einer deutschen Polizeibeamtin im April 2007 konnte dem NSU zugeordnet werden. Nicht ausgeschlossen ist, dass sie zahlreiche Helfer hatten, die ihnen bei der Planung und Durchführung der Taten halfen.

Widersprüchliche Anordnungen im BKA?

Im „Bild“-Artikel ist die Rede davon, dass Beamten der Bundespolizei auch Daten von einem der Mobiltelefone Zschäpes vorgelegen haben sollen. Im Auftrag des Bundeskriminalamts (BKA) sollen diese sogar ausgewertet worden sein. Mittlerweile bestreitet das BKA genau das.

Ein Datenspezialist soll dem Bericht zufolge im Februar 2012, wenige Monate nach dem Auffliegen der Terrorzelle, den Auftrag erhalten haben, Zschäpe zugeordnete Handydaten lesbar zu machen. Einen Tag später sei dieser zurückgenommen worden. Als der Datenspezialist bemerkte, dass dabei zwingende protokollarische Vorschriften nicht eingehalten wurden, ging er der Sache nach. Er erwischte einen Kollegen dabei, sensible Daten zu löschen. Dieser rechtfertigte sich, dazu ebenfalls einen Auftrag des BKA erhalten zu haben.

Eine Mitteilung des Sachverhalts an Vorgesetzte, Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche und dem damaligen Referatsleiter Hans-Georg Engelke, sei ohne Konsequenzen geblieben. Die Daten sollen wiederhergestellt worden sein – und mittlerweile heißt es vom BKA, dieses habe sie nie zur Verfügung gehabt.

NSU hat das Vertrauen der türkischen Community in den deutschen Staat endgültig untergraben

Die Enttarnung der NSU-Terrorzelle hatte für das Gemeinwesen in Deutschland erhebliche Konsequenzen. Vor allem unter türkischen Einwanderern unterminierte sie vielfach das Vertrauen in den deutschen Staat. Ein Grund dafür war, dass die Terroristen über Jahre hinweg Einwanderer ermorden konnten, ohne dass Ermittler die Möglichkeit einer rassistischen Motivation der sogenannten Ceska-Morde auch nur ernsthaft ins Auge fassten. Dabei hatte es bereits in den 1970er Jahren mit den „Turner Diaries“ eine Art „Anleitung“ für das spätere Vorgehen des NSU gegeben. Spätestens in den 1990er Jahren war dieses Buch eines namhaften US-Neonazis nach Erkenntnissen von Verfassungsschutzbehörden auch in der deutschen Szene bekannt gewesen.

Stattdessen wurden Angehörige der Mordopfer einer Verwicklung in die Mordserie verdächtigt und mussten demütigende Behandlungen und indiskrete Befragungen durch Ermittlungsbehörden über sich ergehen lassen. Noch in einer Analyse des LKA Baden-Württemberg aus dem Jahr 2007 war man fest davon ausgegangen, dass die Morde von Ausländern begangen worden sein mussten. Begründung: Die Tötung von Menschen sei „in unserem Kulturkreis mit einem hohen Tabu belegt“.

Im gleichen Jahr hatte ein FBI-Fallanalytiker auf Bitten der deutschen Behörden ein Gutachten über die „Ceska-Morde“ erstellt. Darin wurde empfohlen, nach einem Täter zu suchen, der einen „Groll gegen Türken“ hege. Allerdings ging man damals beiderseits auch von einem Einzeltäter mit einer örtlichen Verbindung zu Nürnberg aus, wo drei der Morde stattgefunden hatten.

Aktenvernichtung im großen Stil beim Verfassungsschutz

Der Verfassungsschutz hatte bereits seit den 1990er Jahren den rechtsextremistischen „Thüringer Heimatschutz“ unter Beobachtung. Dessen langjähriger Führer Tino Brandt stand sogar auf seiner Gehaltsliste. Der NSU hatte vor seinem Untertauchen jahrelang in diesen Kreisen verkehrt, und Brandt soll sogar danach noch regelmäßig Kontakt zu Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gehabt haben.

Nachdem der NSU aufgeflogen war, kam es in Verfassungsschutzbehörden zu groß angelegten Aktenvernichtungsaktionen. Dabei sollen unter anderem – wie jüngst auch „Bild“ berichtete – Daten geändert worden sein, um eine Aufbewahrungsfrist ablaufen zu lassen. Zudem seien im Bundesamt in Köln in einer einzigen Nacht „mehr als zehn Akten“ mit NSU-Bezug geschreddert worden. Der dafür Verantwortlich rechtfertigte sein Handeln damit, dass er „Schaden zum Nachteil des BfV abwenden“ wollte. Infolge der Schredder-Affäre trat Verfassungsschutzchef Heinz Fromm im Juli 2012 zurück – und wurde durch den später selbst in radikal rechte Kreise abgedrifteten Hans-Georg Maaßen ersetzt.

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