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Politik

„Politik der Angst“: Human Rights Watch sieht Menschenrechte auch in Europa gefährdet

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Die Menschenrechte sind bedroht, in Saudi-Arabien, Mexiko oder China – also weit weg. Oder? Ein Bericht von Human Rights Watch
widerspricht: Europa gefährde sich inzwischen selbst durch eine „Politik der Angst“.

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Der Bericht findet klare Worte. Die westlichen Regierungen bewegten sich „rückwärts“, schreiben die Autoren. Aus lauter Furcht vor Terror und Flüchtlingsströmen habe Europa seinerseits eine „Politik der Angst“ entwickelt. Von ihr gehe eine Gefahr für die Rechte aller Menschen aus, „ohne dass sie nachweislich einen effektiven Schutz für die Bürger“ biete. Zu diesem Schluss kommt der Geschäftsführer von Human Rights Watch (HRW), Kenneth Roth, in einem Essay zum am Mittwoch veröffentlichten „World Report 2016“.

Die Organisation untersucht alljährlich die Entwicklung der Menschenrechte in mehr als 90 Ländern, inzwischen zum 26. Mal. Viele Regierungen versuchten, mit einer Einschränkung der Menschenrechte mehr Sicherheit zu erreichen, so das ernüchternde Fazit.

In Europa seien schon heute ein verstärkter Antisemitismus und eine wachsende Islamfeindlichkeit zu beobachten, heißt es in dem fast 700 Seiten langen Bericht. Viele europäische Regierungen erfassten weder Hassverbrechen gegen Juden noch gegen Muslime auf sinnvolle Weise. Auch Sinti und Roma litten in mehreren EU-Ländern unter anhaltender Vertreibung.

Muslime als Sündenbock

Gerade Muslime müssen laut HRW nach den Pariser Anschlägen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) immer wieder als Sündenbock herhalten. „Eine polarisierende Wir-gegen-sie-Rhetorik hat sich von den politischen Rändern in den Mainstream verlagert“, beklagt Roth – eine Beobachtung, die auch deutsche Politiker zuletzt immer wieder geschildert haben.

Extremisten haben dadurch in doppelter Hinsicht leichtes Spiel: Einerseits nutzen sie die Not der Menschen in Konfliktregionen aus. Andererseits halte eine „Fixierung auf die potenzielle Bedrohung durch Flüchtlinge“ die europäischen Regierungen davon ab,
„hausgemachten terroristischen Bedrohungen entgegenzutreten und die notwendigen Maßnahmen einzuleiten, um die soziale Ausgrenzung desillusionierter Bevölkerungsgruppen zu verhindern“, kritisiert HRW – und erinnert daran, dass die Mehrheit der Attentäter von Paris aus Belgien und Frankreich stammten.

Gegen diesen „homegrown terrorism“, den auch der Terrorismus-Experte Peter Neumann oder der Islamwissenschaftler Gilles Kepel beschreiben, braucht es laut HRW entschiedene Maßnahmen: gegen Arbeitslosigkeit und Ungleichheit, gegen soziale Ausgrenzung und Hoffnungslosigkeit. Dass stattdessen ganze Bevölkerungsgruppen aufgrund der Taten Einzelner verunglimpft würden, verletze nicht nur die vielen friedlichen Muslime, schreibt Roth. Zugleich sei diese westliche Reaktion Wasser auf die Mühlen der Terroristen: Wegen einer Spaltung der Gesellschaft könnten sie neue Anhänger gewinnen.

„Kontraproduktiver“ Umgang mit der Flüchtlingskrise

Insofern bezeichnete HRW auch den europäischen Umgang mit der Flüchtlingskrise als „kontraproduktiv“: Die EU konzentriere sich auf eine Begrenzung der Flüchtlingszahlen und Grenzkontrollen, während sich die Asylsuchenden einer „Schutz-Lotterie“ gegenüber sähen.

Anerkennungsraten von Asylanträgen, Maßnahmen zur Unterbringung und Integration schwanken von EU-Land zu EU-Land. Engstirnige nationale Interessen stünden vernünftigen Lösungen im Weg, so formulieren es die Menschenrechtler. Für ein einheitliches Verteilsystem werben immer mehr Politiker, zuletzt etwa der schwedische Justiz- und Migrationsminister Morgan Johansson in der „Zeit“. HRW fordert zudem
sichere Einreisewege – die es nebenbei erleichtern könnten, mögliche Gefährder abzufangen.

Mit Blick auf die weltweite Menschenrechtslage beklagt HRW Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Gruppen. Besonders drastisch sei die Lage in Russland, China und der Türkei. Kritische Organisationen würden geschlossen, Aktivisten und Anwälte verhaftet. So kritisiert HRW beispielsweise die Repressionen der türkischen Regierung gegen die sogenannte Hizmet-Bewegung des muslimischen Predigers Fethullah Gülen. Diese werde wie eine Terrororganisation behandelt, obwohl es „keinerlei Belege“ dafür gebe, dass die Bewegung Verbindungen zu terroristischen oder sonstigen gewalttätigen Vorgängen hat. In mehreren Ländern sei darüber hinaus der Einsatz für Menschenrechte per Gesetz eingeschränkt worden, darunter Ägypten, Kambodscha und Sudan.

Die USA und europäische Länder reagierten allerdings ebenfalls mit Überwachungsmaßnahmen auf die erhöhte Terrorgefahr. „Bei den jüngsten
Anschlägen in Europa waren die Täter den Strafvollzugsbehörden oft
bekannt“, mahnt HRW. Auch hier lautet der Vorwurf der Organisation: Instrumentalisierung – und Schüren von neuer Angst. (kna/ dtj)