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Kultur/Religion

„Moderne Verschwörungstheorie“: Bundesregierung widerspricht Erdoğans Darstellung des Gülen-Netzwerks

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In ihrem dritten Bericht über die Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit stellt die deutsche Bundesregierung der Türkei ein schlechtes Zeugnis aus. Erwähnung findet insbesondere das Vorgehen gegen Freiwillige des Gülen-Netzwerks.

An diesem Mittwoch (24. April) wird sich der Menschenrechtsausschuss des Bundestages im Rahmen einer öffentlichen Anhörung mit der weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit befassen. Die Bundesregierung hat dazu im Vorfeld ihren dritten Bericht vorgelegt, der sich auf den Zeitraum von 2020 bis 2022 bezieht.

In dem Bericht wird für 41 ausgewählte Länder unter anderem die rechtliche Lage der Religionsgemeinschaften analysiert. Außerdem geht es um mögliche Einschränkungen der religiösen und weltanschaulichen Freiheiten durch staatliche Akteure oder gesellschaftliche Konflikte mit religiöser Komponente. Im Länderbericht über die Türkei finden sich einige bemerkenswerte Beobachtungen.

Bericht lässt positive Entwicklungen seit 2002 nicht unerwähnt

Sehr differenziert fällt die Einschätzung über die Entwicklung der Religionsfreiheit in der Türkei seit der Regierungsübernahme der AKP im Jahr 2002 aus. So wird diese – anders, als dies aus der öffentlichen Debatte in Deutschland geläufig ist – nicht ausschließlich auf die „in der Republikzeit präzedenzlose Rückkehr“ des sunnitischen Islam in die Öffentlichkeit reduziert.

Stattdessen wird durchaus erkannt, dass zumindest die ersten Jahre des damit verbundenen Wandels auch Verbesserungen für religiöse Minderheiten gegenüber der kemalistischen Ära gebracht hatten. So wird auf die Möglichkeit der Gründung religiöser Stiftungen hingewiesen, auf die Rückgabe von Eigentum oder die Restaurierung und Wiedereröffnung von Kirchen. Auch die Befreiung von der Pflicht zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht für nichtmuslimische Minderheiten und der Neubau von Cemevis (so heißen ihre Gebetsstätten) für die Aleviten bleiben nicht unerwähnt.

Zugleich wird – in zutreffender Weise – auch verdeutlicht, wo die Grenzen des Öffnungsprozesses verliefen. So werden die Aleviten offiziell in der gleichen Weise als sunnitische Muslime eingeordnet wie die Mehrheitsbevölkerung, statt sie als eigene Minderheit einzustufen. Auf diese Weise bleiben dieser etwa 15 Prozent der Bevölkerung umfassenden Gruppe bestimmte Rechte vorenthalten. Dazu gehört etwa die Nichtteilnahme am islamischen Religionsunterricht. Auch bei den Meldeämtern gelten sie als sunnitische Muslime.

Kemalismus mit religiösem Anstrich

Der Bericht der Bundesregierung arbeitet auch klar heraus, wo die autoritären und vereinheitlichenden Strukturen des Kemalismus nur einen islamischen Anstrich erhalten haben. So besteht zwar offiziell das Verbot islamischer Orden und Bruderschaften erhalten. Faktisch wird es jedoch nicht mehr umgesetzt – vorausgesetzt, der entsprechende Zusammenschluss geht nicht auf Konfrontationskurs zur Regierung.

Das kemalistische Prinzip der staatlichen Kontrolle über das religiöse Leben der Bevölkerung bleibt in der Türkei unangetastet. Der sichtbare Ausdruck davon ist die Bedeutung und faktische Vormacht der Religionsbehörde Diyanet innerhalb des gesamten religiösen Lebens. An dieser kommt keine religiöse Institution vorbei, und der einzige Unterschied zur Vor-AKP-Zeit ist, dass deren Führung jetzt einer Regierung nahesteht, die sich als religiös inszeniert.

Weiterhin bleibt das im kemalistischen Staat kultivierte Identitätsverständnis aufrecht, wonach ein guter Türke dem sunnitischen Islam angehört – dessen Verständnis verbindlich von der Diyanet vorgegeben wird. Andere religiöse Gemeinschaften haben mittlerweile mehr Freiheiten, ihre Verbreitung wird jedoch kontrolliert.

Dabei zeichnet sich ab, dass die AKP perspektivisch auf eine biologische Lösung bezüglich der Andersgläubigen zu setzen scheint. Die Regierung verhindert, dass deren Gemeinschaften Rechtspersönlichkeit erlangen können. Sie kontrolliert die Vereine und lässt sich die Wahllisten der Stiftungen vorlegen. Außerdem beansprucht die Regierung ein faktisches Vetorecht bezüglich der Vorstandsämter nichtmuslimischer Gemeinschaften und verhindert deren Klerikerausbildung. Auf diese Weise überaltern diese und stehen eines Tages ohne geistliche Leitung da. Die Vorstellung von der Einheit der Nation, die religiöse Pluralität und ethnische Minderheiten als störend, wenn nicht gar als Bedrohung betrachtet, hat sich nicht substanziell verändert.

Nichtsunnitische Muslime haben zudem kaum eine nennenswerte Chance, Karriere im öffentlichen Dienst zu machen. Das Missionierungsverbot ist zwar in der Türkei bereits 1991 aufgehoben worden. Dennoch sind exponierte Vertreter des Christentums, vor allem evangelikale, weiterhin massivem Druck ausgesetzt. Der Bericht weist auf den Fall von Pastor Brunson aus dem Jahr 2018 hin, der nur durch enormen Druck vonseiten der USA zu einem glimpflichen Ende für diesen gebracht werden konnte.

Die systematische Dämonisierung der Gülen-Bewegung

Was der Bundesregierung, wie der Blick in ihren Bericht verrät, jedoch auch nicht entgangen ist, ist die anhaltende brutale Verfolgung von Angehörigen der Hizmet-Bewegung – und allen, die aus welchen Gründen auch immer für Anhänger des Predigers Fethullah Gülen gehalten werden. Was den Beginn der systematischen Verfolgung von Gülen-Sympathisanten anbelangt, ist der Bericht nicht ganz präzise.

So wird der Putschversuch einer Gruppe von Militärangehörigen am 15. Juli 2016 als Ausgangspunkt der Verfolgung beschrieben. Tatsächlich waren Korruptionsermittlungen im Umfeld der Regierung Ende 2013 der offizielle Anlass für Erdoğan, Gülen und das von ihm inspirierte Freiwilligennetzwerk zu Staatsfeinden zu erklären.

Erst wurde der Vorwurf, einen „Parallelstaat“ gebildet zu haben, zum Anlass für eine fünfstellige Zahl von Entlassungen und Versetzungen im Staatsapparat. Außerdem wurden Bildungseinrichtungen, Medien und Unternehmen beschlagnahmt und verstaatlicht. Im Jahr 2015 erfand ein Gericht in Konya die „Fetullahistische Terrororganisation“ (FETÖ), die angeblich von den USA und der CIA gesteuert würde. Der Putsch von 2016, nach dem Verdächtige möglicherweise unter Folter oder aufgrund von Versprechungen erklärten, im Auftrag Gülens gehandelt zu haben, wurde jedoch zur Rechtfertigung für eine neue Qualität der Repression.

Der Bericht der Bundesregierung macht deutlich, dass die Bewertung des Gülen-Netzwerks als „terroristisch“ international nicht geteilt wird. BND-Chef Bruno Kahl widersprach sogar explizit der Einschätzung aus Ankara, das Gülen-Netzwerk sei extremistisch oder terroristisch. Er beschrieb diese stattdessen als „zivile Vereinigung zur religiösen und säkularen Weiterbildung“. Weder das Bundesamt für Verfassungsschutz noch die 16 Landesämter kommen zu einer gegenteiligen Einschätzung. Der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber ordnet die Erzählung, das Gülen-Netzwerk stehe hinter dem Putschversuch 2016 in der Türkei, als „moderne Verschwörungstheorie“ ein. Mit Ausnahme der Türkei selbst, Pakistans und der Türkischen Republik Nordzypern hält auch kein Staat die Existenz einer „FETÖ“ für real.

Im Bericht der Bundesregierung ist auch die Rede von Verhaftungen, Verurteilungen, Entlassungen, Aus- und Einreisesperren oder dem Verlust von Versorgungsansprüchen. Diese könnten jedermann treffen, der unter welchem Prätext auch immer unter Verdacht gerät, Gülen-Sympathisant zu sein. Verwiesen wird auch auf Nichtregierungsorganisationen, die von Misshandlungen und Folter berichten, denen Betroffene ausgesetzt wurden.

Fall Yalçınkaya illustriert im Bericht angeklungene Rechtsstaatsdefizite

Der Bericht macht auch deutlich, dass es nur in eingeschränkter Weise möglich ist, rechtsstaatliche Ansprüche in effektiver Weise gegen den türkischen Staat geltend zu machen. Bisweilen ignoriert die Führung in Ankara auch Urteile internationaler Gerichte. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am 26. September des Vorjahres im Fall des Lehrers Yüksel Yalçınkaya gegen die Türkei entschieden.

Diese habe gegen dessen Recht auf ein faires Verfahren, seine Vereinigungsfreiheit und gegen den Grundsatz nulla poena sine lege verstoßen. Yalçınkaya wurde 2017 zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Er soll der „FETÖ“ angehört haben, was sich in verdächtigen Bankaktivitäten, der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft und einem Verein mit angeblichen terroristischen Verbindungen manifestiert hätte.

Vor allem stützte sich die Anklage auf die Verwendung einer Messenger-App namens ByLock, die angeblich von Gülen-Anhängern exklusiv für Gülen-Anhänger entwickelt worden sei. Über diese sei die Koordination aller Aktivitäten erfolgt, die Yalçınkaya und anderen Personen zur Last gelegt wurden.

Die Verurteilung von Yalçınkaya aufgrund seiner Nutzung der Anwendung ByLock und anderer Beweise habe, so der EGMR, „nicht den Anforderungen der nationalen und internationalen Rechtsvorschriften“ Genüge getan. Vor allem könne die Verwendung einer solchen App für sich allein nicht ausreichen, um diesen als „Mitglied einer bewaffneten terroristischen Organisation“ zu verurteilen.

Deutlicher hätte es der Menschenrechtsgerichtshof nicht formulieren können, dass die Türkei im Fall Yalçınkaya ein willkürliches Verfahren mit einer ebensolchen Verurteilung durchgeführt habe. Der Gerichtshof verurteilte die Türkei dazu, dem Lehrer eine „ausreichende gerechte Genugtuung für erlittenen immateriellen Schaden“ sowie 15.000 Euro für Kosten und Auslagen zu bezahlen.

Außerdem ordnete der EGMR an, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, die Missständen Abhilfe schafften, wie sie in dem Urteil angeklungen seien. Insbesondere galt dies mit Blick auf die Vorgehensweise der türkischen Justiz bei der Verwendung von ByLock. Nachgekommen ist die Türkei ihren vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof auferlegten Verpflichtungen übrigens bis heute  nicht.