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Politik

„ByLock“-Verurteilung könnte Folgen für türkische Richter haben

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seinen Sitz in Straßburg. Foto: Oleg Mikhaylov / Shutterstock.com
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In der Türkei wurden in den letzten Jahren tausende Menschen aufgrund der Nutzung einer App wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer Terrororganisation verurteilt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte bereits im September die Verwendung der App namens „ByLock“ als ausschließliche Grundlage für solche Entscheidungen gerügt. Die Antragsteller argumentieren, dass ihre Verurteilungen gegen das Recht auf ein faires Verfahren und das Verbot strafbarer Handlungen ohne Gesetz verstoßen. Der EGMR hat die Anträge zur Stellungnahme an die türkische Regierung weitergeleitet, die nun sechs Monate Zeit hat, sich zu den Fällen zu äußern.

Die Nacht des 15. Juli 2016 hat das Leben vieler in der Türkei verändert. Von heute auf morgen mussten Menschen fliehen, wurden von ihren Familien getrennt oder verhaftet. Einer von ihnen war Yüksel Yalçınkaya, ein gewöhnlicher Lehrer, der laut der türkischen Staatsanwaltschaft Sympathien für die Hizmet-Bewegung gehegt haben soll. Für lange Zeit galt die Zugehörigkeit zur Bewegung um Fethullah Gülen als ein Grund für Stolz. Selbst Politiker schmückten sich mit ihren Beziehungen zur Bewegung und den Gelehrten.

Doch plötzlich wurde die Bewegung als Terrororganisation deklariert. Ihr wurde vorgeworfen, den Putschversuch organisiert zu haben. Der Lehrer Yalçınkaya verstand die Welt nicht mehr. Auch deshalb nicht, weil er im September desselben Jahres verhaftet wurde. Auch er soll sich an der angeblich bewaffneten Terrororganisation, die von der Regierung mittlerweile als FETÖ/PDY bezeichnet wird, beteiligt haben. Er wird zu sechs Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Der Vorwurf: Yalçınkaya soll auf seinem Smartphone die Applikation „ByLock“ installiert haben. Über diese sollen verschlüsselte Nachrichten unter den Mitgliedern der Bewegung ausgetauscht worden sein, nicht nur in jener verhängnisvollen Nacht.

ByLock als Beweis für Mitgliedschaft in einer Terrororganisation

Selbst der Putschversuch soll im Vorfeld über die App koordiniert worden sein. Doch der Lehrer bestreitet die Vorwürfe vehement. Nicht nur in seinem Prozess wurde „ByLock“ als Grundlage für die Verurteilung genommen. Es geht tausenden türkischen Bürgern so, die teilweise noch ihre Haftstrafen absitzen oder mittlerweile aus dem Land fliehen konnten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte im September diese Vorgehensweise kritisiert. Die ausschließliche Nutzung der „ByLock“-App sei nicht ausreichend, um jemanden der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung zu beschuldigen und geschweige denn zu verurteilen, hieß es. Diese Entscheidung betraf rund 8.500 Fälle vor dem Straßburger Gerichtshof, in denen die Verwendung der App als Hauptgrundlage für die Anklage diente.

Ankara soll sich zu ByLock-Verurteilungen äußern

Nun hat das EGMR diese Anträge zur Prüfung und Stellungnahme an die türkische Regierung weitergeleitet, wie es am Montag in einer Pressemitteilung hieß. Im offiziellen Fachjargon des Gerichts wird dieses Vorgehen als „Zustellung einer Beschwerde“ bezeichnet. Die Regierung soll zu den Rechtsverletzungen Stellung beziehen. Die Verurteilung des türkischen Lehrers gilt dabei als Präzedenzfall. Die Klagen sind im Zeitraum von 2019 bis 2023 beim EGMR eingegangen.

Die Antragsteller sind überzeugt, dass die Urteile gegen sie gegen Artikel 6 des Europäischen Übereinkommens zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) verstoßen, der das Recht auf ein faires Verfahren regelt, und gegen Artikel 7, der keine strafbaren Handlungen ohne Gesetz verbietet. Das Gericht hatte bereits im Urteil betont, dass es viele ähnliche Fälle auf der Agenda des EGMR gebe. Die Türkei solle Lösungen auf nationaler Ebene für diese Akten finden, hieß es.

EGMR muss sich sehr oft mit Anträgen aus der Türkei befassen

Ankara hat nun sechs Monate Zeit, sich zu den Fällen zu äußern. Der Gerichtshof hat keine konkrete Verteidigung angefordert. Falls die türkische Regierung allerdings keine Lösung für die Verurteilungen auf Grundlage der ByLock-App finden sollte oder dies überzeugend belegen kann, könnten die Verurteilungen als Verstoß gewertet werden.

Pressemitteilung EGMR ByLock Entscheidung

Die Mitteilung vom Montag im Wortlaut. Quelle: https://hudoc.echr.coe.int/

Die meisten Anträge, die derzeit beim EGMR liegen, haben mit Fällen aus der Türkei zu tun. Schätzungsweise sollen es rund 24.000 Anträge sein, die auf eine Bearbeitung warten. Mehr als 80 Prozent beziehen sich dabei auf Verfahren im Zusammenhang zum Putschversuch vom 15. Juli. Bei über 8.000 Anträgen geht es um ByLock.

Richter könnten im Ausland verurteilt werden

Dr. Kerem Gülay von der Koç-Universität in Istanbul glaubt, dass es, selbst wenn die Regierung die Entscheidung der EGMR ignorieren sollte, weitreichende Folgen haben könnte. „Richter, die hinter den Verurteilungen stecken, können bei einem Auslandsbesuch persönlich für Verstöße gegen die Menschlichkeit verantwortlich gemacht werden“, so Gülay in einem Interview mit der freien Journalistin Nevşin Mengü.

Der EGMR sehe hinter diesen Entscheidung nämlich eine systematische Vorgehensweise. „Er (Yalçınkaya, Anm. d. Red.) hatte während des gesamten Verfahrens keinen Zugang zu den Beweisen, die angeblich vom türkischen Geheimdienst stammten, was seine Verteidigung erheblich behinderte“, so Gülay. Der EGMR kritisierte die türkischen Gerichte scharf und betonte, dass Verfahren unter solchen Umständen inakzeptabel seien. Das Recht des Angeklagten auf eine angemessene Verteidigung sei ein grundlegendes Prinzip, eine Verwehrung stelle einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention dar.