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Politik

Das V-Leute-System: Ein undemokratisches Schattenreich

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Nach Auffassung des Politikwissenschaftlers Hajo Funke illustriert die Art und Weise, in der die Aufarbeitung der NSU-Morde von Statten gegangen war, gleich mehrere gravierende Fehlentwicklung im Zusammenhang mit dem Rechtsextremismus. (Foto: epa)

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Das V-Leute-System: Ein undemokratisches Schattenreich
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In einem ausführlichen Beitrag auf seinem persönlichen Blog analysiert der Berliner Universitätsprofessor und Extremismusforscher Prof. Dr. Hajo Funke anhand von elf Thesen, warum die Mordserie des neonationalsozialistischen Terroristentrios so lange andauern konnte und warum bei vielen Menschen im Lande der Eindruck entsteht, Politik und Exekutive würden nur äußerst halbherzig an deren Tiefenanalyse arbeiten.

Funke diagnostiziert mit Blick auf die braunen Morde unter anderem nicht nur partielle „Pannen“ im Zuge der Ermittlung, sondern ein durchgängiges Muster des Versagens weiter Teile der Exekutive. Die Verfassungsschutzämter hätten sich im Zuge der Ermittlungen als weitgehend nutzlos erwiesen.

Darüber hinaus wären sowohl die Gefährlichkeit des Rechtsextremismus als auch die Bedrohungslage für Einwanderer durch Verfassungsschützer und Sicherheitsbehörden völlig unterschätzt worden. Man habe durch ergebnislose Ermittlungen in Richtung Milieu- und organisierte Kriminalität die Opfer zu Tätern gestempelt und insbesondere ab 2003 und 2004 blockiert, vertuscht und klare Hinweise ignoriert. Dies impliziere in seiner Gesamtschau ein Muster des Versagens.

Unfassbare Fehlleistungen und nicht vorhandene Effizienz

Das System der V-Leute, die Doppelläufigkeiten, Parallelstrukturen und die Abschirmungstendenzen untereinander hätten ein undemokratisches Schattenreich entstehen lassen. Gleichzeitig konnte dieses System seit mehr als 20 Jahren nicht verhindern, dass jährlich beispielsweise 1.000 Gewalttaten durch Rechtsextremisten in Deutschland verübt werden.

Darüber hinaus wirft Funke den Verfassungsschützern mangelnde Erfassung von Daten, unangemessene Sichtung und unzureichende analytische Bewertung vor, darüber hinaus fehlende problemangemessene Weitergabe von Informationen an die zuständigen Polizeibehörden, teilweise Verdeckung und Blockierung solcher Informationen mit dem Ergebnis eines wachsenden Spielraums von Verbindungsleuten aus der rechtsextremen Szene. Am Schlimmsten hätte sich dies in Thüringen ausgewirkt.

Aber auch sonst hätten die Sicherheitsbehörden den Mördern ihr Handwerk nicht gerade erschwert. Neonationalsozialistische Kaderstrukturen wären schlichtweg unterschätzt oder verharmlost, ihre Rolle während gewalttätiger Übergriffe in den 90er-Jahren kaum zur Kenntnis genommen worden. Warner wären marginalisiert worden und nicht einmal die Rolle von Rechtsextremisten als Söldner im Bosnienkrieg, die dazu geführt hätte, dass Extremisten mit militärischer Ausbildung zurückgekommen wären, hätte Anlass gegeben, genauer hinzusehen.

Stattdessen wäre strukturelle Abwehr jedes Gedankens an eine mögliche rechtsextremistische Motivation für die später dem NSU zugeordneten Morde unter dem Motto „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“ bei gleichzeitiger Überbetonung angeblicher Verdachtsmomente im Opfermilieu die Regel gewesen.

Spätestens 2003/04 hätte man den Braten riechen müssen

Funke macht deutlich, dass das Vorhandensein von V-Leuten im Umfeld der Terroristen, vor allem in Thüringen und Sachsen und darüber hinaus eindeutige Bezugnahmen in Szeneblättern dazu hätten führen müssen, dass man die Fährte hin zum Rechtsextremismus aufnimmt – stattdessen wären Informationen nicht ernst genommen oder unterdrückt und mögliche Mitwisser abgeschirmt worden.

Nur einen Aspekt könne man positiv würdigen: Die Arbeit der NSU-Untersuchungsausschüsse sei brillant, man versuchte unermüdlich, offene Fragen aufzuwerfen, Spuren zu verfolgen, Licht ins Dunkel zu bringen. Aber man scheiterte stets an einem regelrechten Informationscatenaccio vonseiten weiter Teile der Exekutive.

Als unerlässliche Maßnahmen für die Zukunft schlägt Hajo Funke ein Paket der „Integrativen Prävention“ vor:

Es müsse unter anderem ein Ende des V-Mann-Wesens in der heutigen Form geben. Maßnahmen zur Erfassung von potenziellem Terror sollen durch Erfassungsmaßnahmen gewährleistet werden, die von operativen Abwehrzentren geführt werden. Dort sollen verdeckte Ermittler, G 10, TKÜ-Maßnahmen und beim Staatsschutz angesiedelte V-Leute koordiniert werden, die von dem ganz anders strukturierten Polizeiwesen begrenzt, auf dem Weg von Vorermittlungen durch Staatsanwaltschaften beauftragt und darüber hinaus durch ein parlamentarisches Kontrollgremium kontrolliert würden, das auszuweiten sei. Des Weiteren forderte Funke ein Verbot freier Netze und Kameradschaften, da diese das Potenzial hätten, zu Brutstätten des Terrors zu werden.

Sarrazin – der Wiedergänger des Sozialdarwinismus

Angesichts eines erheblichen Resonanzraums an fremdenfeindlichen und sozialdarwinistischen Einstellungen, die durch rechtsextreme oder rechtspopulistische Agitation zum Schwingen gebracht würden, sei eine Debatte vonnöten, die die destruktiven Wirkungen solcher Einstellungen für die Bedrohten wie für das Gemeinwesen vor Augen führe. Dabei wies Funke explizit auf die an rassenbiologische Abhandlungen des 20.Jahrhunderts erinnernden Thesen Thilo Sarrazins.

Zum Zwecke der kulturellen Prävention sollen auch Sozialdarwinismus, Vorurteile und Rassismus offensiv konfrontiert werden. Unter anderem solle ein/e Beauftragte/Ombudsmann/-frau gegen Rassismus und für einen weitreichenden Opferschutz diese Aufgabe wahrnehmen und es müsse in Form der Änderung des Staatsbürgerrechts vom Abstammungs- zum Geburtskriterium ein klares Zeichen gesetzt werden.

Prof. Dr. Hajo Funke gehört zu den bekanntesten deutschen Politikwissenschaftlern. Er lehrt (seit 2010 emeritiert) am Institut für Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin. Sein Schwerpunkt liegt auf den Untersuchungen zu Rechtsextremismus und Antisemitismus in Deutschland.