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Gesellschaft

„Etwas getan, was sich Erwachsene nicht getraut haben“

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Die Abiturienten des „Sozialwissenschaftlichen Gymnasiums Mümtaz Turhan“ in Istanbul rund um die 17-jährige Rümeysa Sahbaz und ihre armenischen Kollegen sind mit ihrem Projekt „Ashura-Anuşabur“ die jüngsten GYV-Preisträger aller Zeiten. (Foto: Zaman)

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„Etwas getan, was sich Erwachsene nicht getraut haben“
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Die Stiftung der Journalisten und Schriftsteller (Gazeteciler ve Yazarlar Vakfı – GYV) hat kürzlich – und in diesem Jahr zum vierten Mal – die Gewinner des „Koexistenz-Awards“ gekürt.
Zu den Gewinnern des Abends gehörte diesmal das Ashura-Anuşabur Projekt, das von den Abiturienten des „Mümtaz-Turhan-Gymnasiums für Sozialwissenschaften“ und dem privaten armenischen Gymnasium „Getronagan“ vorgestellt wurde. Die jungen Menschen im Alter von 16-17 Jahren erhielten stehenden Applaus.

„Der Preis, den wir durch die Stiftung bekommen haben, war ermutigend, aber wir haben erst einen kleinen Teil unserer Pläne verwirklicht.“ Mit diesen Worten beginnt Rümeysa Sahbaz ihre Rede. Sie ist die Architektin dieses Projekts – eine Abiturientin des Gymnasiums für Sozialwissenschaften „Mümtaz Turhan“ aus der 12. Klasse. Sie hat einen Hang zur Literatur und ist eine eifrige Leserin. Sie schmückt ihre Unterhaltungen meist mit Zitaten von Schriftstellern.

Rümeysa Sahbaz ist die Tochter einer türkischen Mutter und eines kurdischen Vaters. Ihre Familie lebte früher in Çorum. In dieser Zeit soll sie armenisch gelernt haben. Die Inspiration zum Ashura-Anuşabur Projekt bekam sie, als die Anwältin von Hrant Dink, Fethiye Çetin, einen Vortrag an ihrer Schule hielt. Rümeysa war schwer beeindruckt von der Rede, die den Namen „Meine Großmutter und ich“ trug. Das Buch von Çetin, veröffentlicht im Jahre 2004, trägt den Namen „Meine Großmutter“. Darin wird die Geschichte von Heranus Hanım erzählt, die während der Umsiedlungen im Jahre 1915 ihrer Familie entrissen und in Seher umbenannt wurde, als muslimisches Mädchen aufwuchs und auch so starb. Sie war die Großmutter Fethiye Çetins und hat in diesem Buch nach Spuren ihrer Geschichte gesucht.

Die Idee entstand während eines Vortrags

Auf die Frage, welche Worte sie beeindruckt hätten, antwortet Rümeysa Sahbaz wie folgt: „Frau Çetin stellte sich den Fragen des Publikums. Dabei gab sie eine Frage an das Publikum zurück, nämlich, warum wir unser Verhalten „nicht einfach nach unserem Gewissen ausrichten könnten, anstatt Menschen ihre Wurzeln zu kappen, sie zu zählen und als Verfügungsmasse zu verwerten“. Genau diese Worte hatten mich erschüttert. Ich begann über ihre Worte nachzudenken. Wir haben uns Gedanken über die Armeniersache gemacht und uns selbst Fragen gestellt. Die Projektidee begann auf diese Weise unmittelbar während der Rede von Frau Çetin. Zuerst erzählte ich meiner Klassenfreundin Hanne Bolluk davon. „Was sind das für Menschen, die Armenier, sollten wir das nicht mal recherchieren?“ Mit zwei Personen begannen sie daraufhin, ihr Projekt umzusetzen, es machten zuerst sechs Klassenkameradinnen mit, dann wurden 16 daraus und bis heute haben an diesem Projekt fast 50 Schülerinnen mitgewirkt.

Rümeysa ist auch die Namensgeberin des Projekts. Sie sei bei der Internetrecherche auf „Anuşabur“ gestoßen. Das ist die armenische Version von ‘Ashura’ (einem beliebten islamischen Dessert). Das war das beste Beispiel für Interkulturalität, das wir finden konnten, sagt Rümeysa. Hanne Bolluk übernimmt danach das Wort: Die Zutaten für Anuşabur sind so vielfältig und einzigartig, dass es nichts an seiner Originalität verlieren oder mit Ashura verwechselt werden kann, und dennoch viele Gemeinsamkeiten damit aufweist.

Die Menschen hatten zu Noahs Zeiten nach der Sintflut ihr Leben mit diesem Essen weiterführen können. Den Menschen, die bei dieser Flut getrennt und dadurch geprüft wurden, wurde die Formel für ihre Wiedervereinigung mittels dieser Zutaten gegeben. Und genau das ist die Bedeutung von Anusabur bzw. Ashura. Nachdem der Name für das Projekt gefunden worden war, ging es weiter mit konkreten Arbeitsschritten. Die Jugendlichen kontaktierten die Zeitung „Agos“. Sie bekamen Hilfe von Rober Koptaş und Serkis Seropyan. Erst danach wurde das armenische Privatgymnasium Getronagan kontaktiert. Das erste Gespräch fasst Hanne Bolluk so zusammen: „Als wir nach Karaköy fuhren, waren wir sechs Mädchen, fünf von uns trugen ein Kopftuch. Natürlich haben wir dort zuerst für Verwunderung gesorgt. Wir konnten anfangs kein richtiges Gespräch führen. Die Lehrerinnen haben versucht, ein Thema aufzuwerfen, doch irgendwie kamen immer wieder Gesprächsblockaden auf. Erst als die Lehrerinnen den Raum verließen, konnten wir Schülerinnen uns austauschen. Wir haben uns genau fünf Stunden lang unterhalten. Wir waren schließlich alle Gymnasiastinnen und hatten ähnliche Träume und Wünsche. Nach dem ersten Treffen haben wir Telefonnummern und E-Mailadressen ausgetauscht und über soziale Netzwerke den Kontakt vertieft.

Rümeysa Sahbaz bezeichnet das Projekt als eine „Berührungsaktion“. „Es war eine Probeberührung, denn der Mensch fürchtet sich vor dem Fremden und ist reserviert. Vor allem möchte man auf der sicheren Seite sein. Aber als wir unsere armenischen Freunde näher kennenlernten, sahen wir, dass es keine großen Unterschiede zwischen uns gab. Es gab einen Stolperstein und den haben wir weggeräumt. Wir hätten nie vermutet, dass es so viele Resonanz findet“, fügt sie hinzu. Die Schüler setzten einen Jahr lang ihren Kontakt fort und führten sogar Familienbesuche durch. Sowohl Rümeysa als auch Hanne kommen aus anderen Städten und deshalb bleiben sie im Internat. In den Wohnungen ihrer armenischen Freunde werden sie als Gäste empfangen. Hanne Bolluk erzählt: „Wir sind Internatsschülerinnen – die Mutter von Linda Serkizyan sagte immer „Ich bin auch eure Mutter, wieso bringt Ihr nicht auch eure Wäsche zu mir?“. Die Mutter unserer Freundin Zepür Altınkaya bereitete für uns einen Osterkuchen vor und wir haben zusammen gespeist. Und vor Prüfungen haben wir füreinander gebetet, dass wir sie bestehen.“

Nicht nur positive Reaktionen

Es gab aber auch noch eine Downline mit Blick auf dieses Projekt. Seitens der Schulbehörden wurde dem Projekt die Genehmigung verweigert. Die Provinzschulbehörde habe es sogar dreimal abgelehnt. Einer der Vizepräsidenten der Schulbehörde soll sogar gefragt haben, wieso sich die Schüler für so ein problematisches Thema entschieden hätten und was sie damit bezweckten?
Auch aus der Schule selbst und aus dem familiären und sonstigen Umfeld der Schüler wurde Kritik gegenüber der Themenwahl geäußert, doch gaben Rümeysa und ihre Kolleginnen nicht auf. Ob sie schon mal über die Geschehnisse von 1915 gesprochen haben? „Das schulden wir diesen Menschen. Sie wollen ihren Platz als Menschen im Herzen dieses Landes einnehmen und nicht als Opfer. Auch sie stören sich daran, wenn die Diaspora die Armenienfrage politisch instrumentalisiert, “ antwortet Zeynep Yıldız. Mitschüler Ferit Oğuztürk sagt, dass er zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, sich mit einem Armenier zu unterhalten und anzufreunden. Ali Çiftçi dagegen hat viel Spaß daran, mit armenischen Gleichaltrigen etwas in der Freizeit zu unternehmen. „Wir haben uns an deren Musikunterricht beteiligt. Während an unserer Schule nur zwei oder drei Personen Klavier spielen können, ist bei denen fast jeder ein Mozart. Alle armenischen Schüler können sehr schön Klavier spielen, “ erzählt er lächelnd.

Die türkischen und armenischen Schüler erzählen davon, wie sie am 5. Mai im Konferenzsaal des „Mümtaz-Turhan-Gymnasiums für Sozialwissenschaften“ eine Präsentation gehalten hatten über die armenische Kultur, über die Geschichte der Armenier, ihre Esskultur, Literatur, Tänze und Musik. Auch wurde von der Praxis der Partizipation erzählt. Die Präsentationen seien thematisch geordnet gewesen, einer habe das Thema „Die Geschichte der Armenier“ bearbeitet, ein anderer „Architektur bei den Armeniern“ und der Dritte habe „Musik bei den Armeniern“ präsentiert. Es habe Theaterstücke und Tanzvorführungen gegeben. Im Rahmen des Vortragsprogrammes sollen auch Atilla Yayla und Rober Koptaş eine Rede gehalten haben. Rümeysa Sahbaz berichtet weiterhin, dass sie keine Sponsoren gefunden hätten. Deshalb sollen sie von den fünf armenischen Hochschulen in Istanbul Anuşabur bekommen haben, um am Ende des Programms Portionen davon zu verteilen.

Die Jugendlichen haben weiterhin Großes vor. Es sind weitere Projekte. Zuerst wollen sie eine „Plattform für gemeinsames Leben“ gründen. Im Dezember möchten sie eine Ausstellung mit dem Titel „Konfliktreich“ veranstalten. Im Sommer sollen sie sich auch mit kurdischen Müttern, die ihre Söhne bei Gefechten verloren haben, und mit Soldatenmüttern unterhalten haben.

Mit dem Projekt „Wenn jemand weint, dann meine Mutter“ glaubt Rümeysa Sahbaz, die Menschen zu bewegen. Sie sagt, dass die Gäste die Ausstellung mit Taschenlampen besichtigen werden. Was wir als „Märtyrer“ oder „Kadaver“ kategorisieren, fällt für die Mütter in die Kategorie „Kind“, sagt sie. Sie vernachlässigt es nicht, zu erwähnen, dass sie auch für dieses Projekt Sponsoren sucht.

„Wir haben etwas getan, was sich die Erwachsenen nicht getraut haben“

Die Abiturientin Linda Serkizyan vom Privatgymnasium „Getronagan“ hat im Rahmen der Preisverleihung eine Rede gehalten. Ihre Betonung lag auf Brüderlichkeit: „Wir haben ein Projekt vorbereitet, um zu zeigen, wie schön das gemeinsame Leben sein kann. Unsere Familien haben uns auch dabei unterstützt, dass wir uns von nun auch öfters sehen können und wir haben einen schönen gemischten Freundeskreis aufgebaut. Für uns bedeutet Leben nicht nur Atmen, sondern auch Partizipieren. Es ist möglich, brüderlich zu leben. Wir haben an diesem Projekt der zukünftigen Generation wegen teilgenommen. GYV hat dies auch anerkannt und belohnt. All die Vorurteile, die ich vorher besaß, sind weg. Von nun an glaube ich mehr und mehr an Frieden und Brüderlichkeit. Wir haben etwas geschafft, was die Großen nicht geschafft haben.“

Die Stiftung der Journalisten und Schriftsteller hat unter dem Thema „Die Kultur des gemeinsamen Lebens“ Personen und Institutionen einen Preis verliehen. Auch die anderen Sieger des Jahres 2012 wurden letzte Woche am Sonntag im Kongresszentrum von Istanbul gekürt.
Und dies waren die Sieger in den einzelnen Kategorien:

Literatur: Hilmi Yavuz
Wissenschaftliches Arbeiten: Nilüfer Göle
Visuelle Medien: Dünya TV
Printmedien: Zeitung „Agos“
Beispielhaftes Verhalten und Aktivität in der Gesellschaft („Koexistenz-Award“): Aşure – Anuşabur ; Projekt der Gymnasien Mümtaz Turhan und Getronagan
Audiovisuelle Kunst und Bühnenkunst: Chor der Zivilisationen aus Antakya
Sozialkulturuelle Partizipation: Metropolit Saliba Özmen von der Syrisch-Orthodoxen Gemeinschaft Mardin und der Meinungsführer aus Batman, Hacı Mirza Demir
Der Sonderpreis der Jury ging posthum an den verstorbenen ehemaligen Vertreter des Vatikan in Istanbul, George Marovitch.