Arzneimittelkrise in der Türkei: Warum lebenswichtige Medikamente immer knapper werden
Die Türkei erlebt eine ihrer schwersten Arzneimittelkrisen der vergangenen Jahrzehnte. In Apotheken fehlen Krebsmedikamente, Insulin- sowie Herz-Kreislauf-Präparate und sogar Wirkstoffe für den Gebrauch in der Intensivmedizin. Experten machen tiefe strukturelle Problem verantwortlich.
Die seit Jahren bekannten und beklagten Engpässe in türkischen Apotheken haben sich mittlerweile zu einer manifesten Arzneimittelkrise ausgeweitet. Wie „DW Türkçe“ berichtet, müssen mittlerweile sogar chronisch kranke Menschen, Kinder und Notfallpatienten häufig über Wochen oder sogar Monate auf wichtige Medikamente warten.
Betroffen sind mittlerweile auch relevante Präparate für Herz- und Kreislaufpatienten, Diabetiker, aber auch in der Intensivmedizin benötigte Medikamente. Dort kann das Fehlen dieser Präparate sogar Lebensgefahr bedeuten. Aber auch unterhalb dieses Levels haben die Engpässe gravierende Auswirkungen. Kinderwunschbehandlungen müssen verschoben werden, Krebskranke erhalten keine Schmerzpflaster, Kinder mit Fieber keine Antibiotika. Diabetiker müssen auf grundlegende Präparate wie Metformin verzichten.
Preisregulierung hat Tür und Tor für Spekulationen geöffnet
Die offiziellen Lieferketten sind weitgehend dysfunktional geworden. Um sich in Notfällen zu behelfen, organisieren Apotheker WhatsApp-Gruppen und Kollegennetzwerke über Städte hinweg, um parallele Versorgungsstrukturen aufzubauen. Allerdings bleiben diese Wege improvisiert – ein verlässliches System entsteht daraus nicht.
Einen Grund für die Krise sieht der CHP-Abgeordnete Kayıhan Pala darin, dass sich die Türkei weitgehend von ausländischen Medikamenten abhängig gemacht hat. Zudem driften der reale Marktpreis in Euro und der staatlich festgelegte „Euro-Referenzkurs“ innerhalb des Preissystems für Arzneimittel immer weiter auseinander.
Dort wird noch mit einem Kurs von 21,67 TL für einen Euro kalkuliert, tatsächlich ist der Marktpreis bei fast 49 TL angekommen. Für internationale Hersteller lohnt es sich damit immer weniger, den türkischen Markt zu beliefern. Dies betrifft insbesondere Importpräparate und Produkte mit importierten Wirkstoffen. Zu diesen gehören jedoch zentrale Präparate für die relevanten Zielgruppen.
Ausstieg aus eigener Produktion in der Türkei verschärfte Abhängigkeit
Außerdem heißt es innerhalb der Branche, Hersteller und Großhändler spekulierten mit den Präparaten. In Zeiten erwarteter Preissteigerungen hielten sie Medikamente zurück. Erst kurz vor Ablauf der Haltbarkeit tauchten sie wieder auf. Die Türkei hatte in früheren Zeiten Einrichtungen wie das Refik-Saydam-Hıfzıssıhha-Institut oder eine Arzneimittelfabrik unterhalten, die von der Sozialversicherungsanstalt selbst betrieben wurde.
Diese produzierten grundlegende Medikamente und Impfstoffe. Im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte wurde diese Produktion geschlossen. Damit ist die Versorgung vollständig marktabhängig – und damit auch von den Lieferketten, die sich auf dem Weltmarkt etabliert haben. Damit ist man auch Lieferengpässen und Preisschwankungen noch stärker als zuvor ausgeliefert.
Kurzfristige Maßnahmen – und langfristige Strategien gegen die Arzneimittelkrise
Fachleute sehen eine realitätsnahe Anpassung des Referenzkurses als eine der wenigen Optionen zur kurzfristigen Stabilisierung der Situation. Es müsse zudem mehr Transparenz im Lager- und Lieferwesen sowie strengere Kontrollen von Depot- und Firmenbeständen geben. Der Gesetzgeber müsse dafür sorgen, dass kritische Wirkstoffe besonders geschützt und kontinuierlich verfügbar gehalten würden.
Langfristig sei jedoch eine strategische Neuausrichtung notwendig. Ein Aufbau staatlicher Produktionskapazitäten für Grund- und Notfallmedikamente, Impfstoffe und häufig verwendete Präparate sei unverzichtbar. Andernfalls werde sich an regelmäßig wiederkehrenden Versorgungsschocks und Abhängigkeiten nichts Wesentliches ändern.



