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Die neue Unabhängigkeit: Wie die Türkei sich von Russland löst – und neu erfindet

  • Dezember 12, 2025
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Die neue Unabhängigkeit: Wie die Türkei sich von Russland löst – und neu erfindet

Die Türkei stellt ihre Energieversorgung neu auf – leise, aber mit weitreichenden Folgen für Europa und Russland. Während Ankara die eigenen Gasvorkommen im Schwarzen Meer erschließt und LNG aus aller Welt einkauft, schrumpft die Abhängigkeit von Gazprom stetig. 

Als im Hafen von Filyos am Schwarzen Meer ein rot gestrichenes Versorgungsschiff langsam ablegt, wirkt die Szene fast unspektakulär. Doch sie steht für eine tektonische Verschiebung in der Energiepolitik der Türkei. Wo früher einseitige Abhängigkeiten dominierten, entsteht nun ein komplexes Geflecht aus Eigenförderung, internationalen Lieferbeziehungen und geopolitischen Ambitionen.

Und während Europa lautstark den Abschied von russischem Gas verkündet, vollzieht Ankara einen Rückzug, der leiser, aber nicht weniger konsequent ist. Noch immer ist Russland wichtigster Gaslieferant der Türkei. Doch die Bedeutung bröckelt. Früher deckte Gazprom rund 60 Prozent des türkischen Verbrauchs, heute ist es nur noch gut ein Drittel. Offizielle Zielmarke: 25 Prozent, nicht mehr.

Ein Land sortiert sich neu

Dass Ankara die neu ausgehandelten Verträge mit Gazprom nur auf zwölf Monate begrenzt hat, ist kein Zufall. Der Staat verschafft sich damit maximale Manövrierfähigkeit – in einer Zeit, in der Energie- längst Teil der Sicherheitspolitik geworden ist. Zugleich sendet die Türkei ein Signal an Brüssel und Washington: Man lässt sich nicht treiben, sondern gestaltet eine eigene strategische Mitte.

Die türkische Energiestatistik zeigt eine drastische Verschiebung innerhalb weniger Jahre:

  • Mehr LNG: Neben Algerien und Katar gewinnen die USA rasant an Bedeutung. Neue Verträge summieren sich auf rund 1500 Schiffslieferungen binnen 15 Jahren.

  • Iran bleibt wichtig: Ein bis 2026 laufender Liefervertrag über etwa zehn Milliarden Kubikmeter soll verlängert werden.

  • Kaspisches Gas: Die TANAP/TAP-Pipeline bringt aserbaidschanisches Gas nach Südeuropa – und stärkt Ankaras Rolle als Transitstaat.

Türkische Energiepolitik folgt dabei keinem Ideal, sondern einem pragmatischen Prinzip: Jede Quelle zählt – solange sie die Abhängigkeit reduziert.

Der Schatz in der Tiefe

Der eigentliche Beschleuniger der türkischen Emanzipation liegt jedoch unter Wasser. 2020 stießen Bohrschiffe im Schwarzen Meer auf Gasvorkommen, die mittlerweile auf 785 Milliarden Kubikmeter bestätigt sind. Fachleute gehen von weiterem Potenzial aus.

In Filyos, wo die Leitungen ans Land treffen, wird sichtbar, welche strategische Bedeutung Ankara dem Projekt zumisst: schwer bewachte Anlagen, neue Infrastruktur, hohe Investitionen.

Die Förderziele sind ambitioniert:

  • 2025: 9 Mio. m³ pro Tag

  • 2026: 20 Mio. m³

  • bis 2028: 40-45 Mio. m³

Damit könnte die Türkei mittelfristig ganze Pipelineverbindungen aus Russland überflüssig machen.

Zwischen Drohnen und Diplomatie

Die Nähe des Gasfeldes zur militärisch angespannten Schwarzmeerregion bleibt ein Risikofaktor. Erst kürzlich wurden zwei russische Tankschiffe in der türkischen Wirtschaftszone durch ukrainische Drohnen getroffen. Ankara reagierte ungewöhnlich scharf.

Doch die Botschaft an Moskau ist widersprüchlich: Einerseits sichert sich die Türkei neue Gasautarkie, andererseits baut sie mit dem russischen Staatskonzern Rosatom eines der größten Industrieprojekte ihrer Geschichte – das Atomkraftwerk Akkuyu. Für die Regierung ist das kein Widerspruch, sondern Teil einer multipluralen Energie- und Außenpolitik.

Erdoğans Vision: Hub zwischen den Welten

Was die Türkei antreibt, ist die Aussicht auf eine neue Rolle: die eines Energie-Schlüsselknotens zwischen Asien und Europa. Schon heute fließt Gas aus Aserbaidschan über türkisches Territorium bis nach Italien, russisches Gas strömt über TurkStream Richtung Balkan und Ukraine.

Ankara setzt darauf, diese Position auszubauen:

  • mehr Speicher (Ausbau auf 12 Mrd. m³),

  • mehr Regasifizierung (zwei neue LNG-Terminals),

  • mehr Transportkapazität (eine Verdopplung oder gar Verdreifachung wäre technisch möglich).

Doch Ankara weiß auch: Ein Hub, der nicht eigene Ressourcen besitzt, bleibt verwundbar. Genau deshalb ist das Schwarzmeerprojekt energiepolitisch wie auch psychologisch zentral.

Die große Energie-Schachpartie

Parallel zur Gasstrategie treibt die Türkei die Transformation ihres Stromsystems voran. Bis 2035 soll die Erzeugung aus Wind und Sonne von 36 auf 120 Gigawatt wachsen – ein radikaler Schritt, der den Bedarf an neuen Gaskraftwerken begrenzen soll.

Dazu kommen drei geplante große Atomkraftwerke und kleinere modulare Reaktoren. Es ist ein Kraftakt, der nicht nur auf Versorgungssicherheit, sondern auch auf geopolitische Stärke zielt: Energie soll für die Türkei künftig ein Machtmittel sein – keine Achillesferse.

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Stefan Kreitewolf