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Gesellschaft

Patienten halten richtige Arznei für wichtiger als ein Arztbesuch

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Viele türkische Bürger decken sich willkürlich und ohne Absprache mit dem örtlich verantwortlichen Arzt mit umstrittenen Medikamenten ein. Der Gedanke „Wer weiß, ob man sie nicht doch noch mal brauchen wird“ ist weit verbreitet. (Foto: cihan)

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Patienten halten richtige Arznei für wichtiger als ein Arztbesuch
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Der Absatz pharmazeutischer Produkte in der Türkei ist heute höher als je zuvor. Innerhalb der letzten zehn Jahre stieg der Verbrauch von Arzneimitteln um nicht weniger als 170 Prozent an. Experten warnen, dass dieses Phänomen sich allmählich zu einem ernst zu nehmenden Gesundheitsproblem in der Türkei auswachsen könnte.

Wurden 2002 noch insgesamt 700 Millionen Arzneimittelpackungen verkauft, waren es 2012 schon 1,9 Milliarden. Was dabei immer wieder zu beobachten ist: Zu viele Menschen in der Türkei nutzen pharmazeutische Produkte übermäßig und nach eigenem Ermessen, ohne dabei die Packungsbeilagen und ärztlichen Empfehlungen zu beachten.

Vor allem die Willkür und Einfachheit, mit der sich türkische Bürger seit 2002 Medikamente verschaffen können, erscheint vielen als besorgniserregend. Zahlreiche Bürger glauben, auch ohne ärztlichen Rat genau das richtige Medikament für sich zu kennen. Im Glauben, wichtige Arzneimittel gekauft zu haben, sammeln dabei nicht wenige einen Vorrat unnötiger Medikamente in ihren eigenen Hausapotheken an.

Die türkische Sozialversicherungsanstalt (SGK) sieht diese Annahmen durch die Ergebnisse einer von ihr in Auftrag gegebenen Umfrage bestätigt. Derzeit würden im Schnitt elf verschiedene Medikamente in jedem Haushalt gehortet. Hochgerechnet würden nicht weniger als 190 Millionen Packungen Arzneimittel noch in den Privathaushalten lagern. Bis zu 80% davon seien angerissene Packungen, die in weiterer Folge nicht aufgebraucht würden – auch und gerade solche, die nicht geholfen haben, aber von denen man trotzdem denkt, sie könnten zu einem späteren Zeitpunkt noch von Nutzen sein.

Hauptsächlich werden dabei Schmerzmittel, Antibiotika und Medikamente für rheumatische Erkrankungen gehortet. Dabei ist vielfach eine besorgniserregende Nachlässigkeit nicht nur mit Blick auf die Beachtung des jeweiligen Ablaufdatums, sondern auch in Anbetracht der Bemühungen zur Selbstmedikation zu verzeichnen. Insbesondere nach längerem Nichtgebrauch komme es auch schon mal zu folgenschweren Verwechslungen.

Pro-Kopf Ausgaben für Pharmazieprodukte sind deutlich höher als der EU- Standard

Führende türkische Gesundheitsökonomen beklagen, dass die Pro-Kopf-Ausgaben für pharmazeutische Produkte in der Türkei im Vergleich zur EU und den OECD-Staaten weit über den Durchschnitt liegen. Der Anteil der gesamten Gesundheitsausgaben für Medikamente liege zwischen 7 und 15 Prozent in den EU-Ländern, in den OECD- Staaten bei 17 Prozent, in der Türkei hingegen bei nahezu 40 Prozent. Zwar gäbe es einen leichten Rückgang dieses Anteils durch staatlich veranlasste Maßnahmen in den letzten drei Jahren, doch ist sei immer noch sehr hoch.

Vor allem wären viele Verschreibungen überflüssig. Die Anzahl der jährlichen Arzneiverschreibungen betrage in der Türkei knapp 350 Millionen Stück. Während in der EU nur 15 bis 25% aller Patienten nach der ersten Untersuchung eine Arznei verordnet bekommen würden, liege die Rate in der Türkei bei 95 Prozent. Dabei würden 72,5% der Ärzte vorschnell den Arzneiwünschen ihrer Patienten entsprechen, die gerne zum Zwecke der Untermauerung ihres Standpunktes mit einem Arztwechsel drohen würden.

Patienten sind davon überzeugt, dass die richtige Arznei wichtiger als ein Arztbesuch sei

Immer noch erscheine einer nicht unerheblichen Anzahl von Patienten die Verschreibung eines Medikaments als wesentlicheres Element einer gelungenen Gesundheitsversorgung als die eigentliche Heilbehandlung. Entsprechend sei auch die Erwartungshaltung ausgeprägt. Wird kein Medikament verschrieben, fühlen sich nicht wenige Patienten in der Türkei übergangen. Entsprechend neigen Ärzte auch dazu, dort zu verschreiben, wo es nicht zwingend erforderlich wäre.

Um hier gegenzusteuern, haben kürzlich sowohl das Gesundheitsministerium als auch die Sozialversicherungsanstalt (SGK) ihre Richtlinien verschärft. Nach Informationen der SGK werden 45,6% aller Arzneimittel von Hausärzten verschrieben, des Weiteren werden 35,9% der Rezepte von Ärzten aus öffentlichen Krankenhäusern verschrieben und 15,4% von Ärzten aus privaten Krankenhäusern.

Medikamente horten, sehen die Patienten als Absicherung an

Experten meinen auch den Grund für die Entwicklung zu kennen. In den Jahren vor der großen politischen Wende 2002 blockierten vor allem bürokratische Hürden den Zugang zur medizinischen Versorgung in der Türkei. Menschen standen teils stundenlang vor Apotheken. Auch das Angebot an pharmazeutischen Produkten war sehr dünn, mehr Wettbewerb und ein freierer Markt haben dies geändert. Heute versuchen sich die Menschen in Anbetracht ihrer Entbehrungserfahrungen aus früherer Zeit mit möglichst vielen Produkten abzusichern.

Das Problem wird auch dadurch verschärft, dass weniger Ärzte in Krankenhäusern beschäftigt sind, im Gegenzug die bestehenden weniger Zeit für den Einzelnen haben und deshalb standardisierter vorgehen.

Was Beobachtern ebenfalls Sorgen bereitet, ist, dass zu den beliebtesten und am häufigsten konsumierten pharmazeutischen Produkten in der Türkei Antibiotika zählen. Nach Angaben der SGK machen Antibiotika 11.4 Prozent aller verschriebenen Rezepte aus. Antibiotika werden dabei vielfach falsch angewendet. Auch sind die Intervalle und Dosierungen häufig nicht der Krankheit entsprechend und häufig übertrieben. Das gleiche Problem gäbe es Experten zufolge bei der Nutzung von Schmerzmitteln, obwohl das Risiko von Nebenwirkungen, wie zu hoher Blutdruck oder gar Herzinfarkte, bei beiden Medikamenten sehr hoch sei.