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Gesellschaft

„Auch er ist einer von ihnen, nehmt ihn mit!“

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Es ist Sommer und viele Deutschtürken fahren in die Türkei, um ihre Verwandten zu besuchen. Auch Ahmet Kale reiste in das Land am Bosporus, landete jedoch im Gefängnis. Denn in der Türkei herrscht seit dem gescheiterten Putsch von 15. Juli eine Pogromstimmung – gegen Anhänger der Hizmet-Bewegung.

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Der Schreiner Ahmet Kale* kam Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland. Er war damals 16 Jahre alt, besuchte die Berufsschule und arbeitete mehrere Jahre in einem Schreinerbetrieb, bis er aus gesundheitlichen Gründen in die Frührente entlassen wurde. Kale ist ein gläubiger Mensch und engagiert sich seit seiner Jugend in der Hizmet-Bewegung des Predigers Fethullah Gülen. Er hat die Werke des kurdischen Gelehrten Said Nursi gelesen, nahm an Gesprächszirkeln teil und widmete sich mal mehr mal weniger den Projekten der muslimischen Bildungsbewegung. Als Frührentner hatte er viele Möglichkeiten zu reisen und leistete so einen bescheidenen Beitrag zur Verbreitung der Ideen der Bewegung in Deutschland. Über die Sommer reiste er in dir Türkei, um seine Verwandten zu besuchen.

Der heute 58-Jährige reiste auch in diesem Jahr mit seiner Frau in die „alte“ Heimat. Als er am Morgen des 22. Juli aufwachte, galt in der Türkei eine andere Zeitrechnung. Genau eine Woche zuvor hatten Teile des Militärs erfolglos geputscht. Zum Glück. Dass der Putsch nicht gelingen konnte, hat viele Gründe. Ein wichtiger Grund ist die Tatsache, dass das Volk dem Ruf des charismatischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan folgend auf die Straßen ging und sich aufopferungsvoll gegen die Putschisten stellte. Das war ein gefährliches aber entscheidendes Unterfangen, dem leider auch 238 Menschen zum Opfer fielen. Die riskante Taktik des türkischen Staatspräsidenten hätte schließlich auch einen Bürgerkrieg auslösen können.

Für Vaterland, Fahne und Nation

Şerife Boz ist eine von den hunderttausenden Türken, die an dem Abend des gescheiterten Putsches auf die Straße ging. Sie setzte sich auf den Fahrersitz eines Lastwagens, der nicht Güter geladen hatte, sondern Bürger, die sich wie sie den Putschisten in den Weg stellen wollten. BBC Türkçe gegenüber erzählt sie, was sie motiviert hat, um am Abend des schwarzen Freitags auf die Straße zu gehen. „Um dem Putsch Einhalt zu gebieten. Für unser Vaterland, für unsere Nation, für unsere Fahne“, sagt sie in das Mikrofon und ergänzt: „Falls es nochmal passieren sollte, würde ich dasselbe wieder tun.“

Seit genau einer Woche gehört aus Sicht des starken Präsidenten und der Mehrheit der Türken die Bewegung, der sich Ahmet Kale zugehörig fühlt, nicht mehr zum Volk und zur Nation, für die Boz und andere Helden, ihr Leben aufs Spiel setzend, auf die Straßen gingen. Erdoğan machte sofort, nachdem der Putschversuch bekannt wurde, Fethullah Gülen und die Hizmet-Bewegung als Hauptschuldigen aus, gegen die er seit Jahren eine unerbittliche Hexenjagd führt. Beweise dafür will oder kann er nicht liefern. Er sagte letzte Woche in Richtung der USA, von denen er die Auslieferung Gülens verlangt, man möge sein Wort als Beweis sehen und den Prediger, der in Pennsylvania lebt, alsbald ausliefern. Man habe keine Zeit zu verlieren und müsse kurzen Prozess machen. Erdoğan war in seiner hasserfüllten Jagd auf die Bewegung, die Pazifismus als einen ihrer grundlegendsten Werte versteht, nie daran interessiert, sich an Recht und Gesetz zu halten. Die Suspendierungen und Verhaftungen von Zehntausenden in diesen Tagen des Ausnahmezustands machen das mehr als deutlich.

Schwarze Liste 

An jenem Freitagmorgen also, am zweiten Tag des Ausnahmezustands, wacht Kale gegen halb neun auf. Er frühstückt und macht sich auf den Weg zu seinen Eltern, die in direkter Nachbarschaft wohnen. Als er feststellt, dass sie schlafen, will er sie nicht stören und geht deshalb zwei Häuser weiter zu seiner Schwester. Nach einer herzlichen Begrüßung gehen sie auf die Terrasse und trinken gemeinsam Tee, als plötzlich ein Polizeiwagen in zivil vorfährt. Es ist 10.30, die Sonne lässt ihre Hitze langsam spüren. Die Beamten sind in Begleitung des Dorfvorstehers gekommen. Einer von ihnen fragt nach Mehmet Kale. Die Hausherrin sagt, dass sie keine Person mit diesem Namen kenne. Daraufhin zeigt der Dorfvorsteher auf Ahmet Kale: „Auch er ist einer von ihnen. Er heißt Bayram Kale, nehmt ihn mit.“ Ahmet Kale widerspricht: „Ich heiße nicht Bayram, sondern Ahmet.“ Daraufhin verlangt die Polizei nach dem Personalausweis. Ahmet Kale weist sich aus. Der Polizist überprüft den Namen und stellt fest, dass es sich tatsächlich um Ahmet Kale handelt: „Wir haben ihn gefunden“, sagt er nüchtern. Auch nach Ahmet Kale wurde offenbar gesucht. Anscheinend existierten schwarze Listen, die lange vor dem gescheiterten Putschabend erstellt wurden und auf dem die Gebrüder Bayram und Ahmet aufgelistet sind.

Was hatte sich Bayram zu Schulden kommen lassen? Zwei Jahrzehnte, nachdem Ahmet nach Deutschland ausgewandert war, machte sich Bayram als Kleinunternehmer nach Aserbaidschan auf. Er wollte in den 1990er Jahren mit seinen Geschäften in dem benachbarten und befreundeten Land, das mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gerade in die Freiheit entlassen wurde, nicht nur Geld verdienen, sondern auch die Bildungsarbeit der Hizmet-Bewegung unterstützen.

Da der Präsident nicht nur in der Türkei, sondern Türken auf der ganzen Welt fast jeden Tag aufruft, Sympathisanten der Hizmet-Bewegung dem Staat zu melden, herrscht unter den Türken, egal, wo sie leben, eine regelrechte Denunziationshysterie, bei der die Dorfvorsteher eine zentrale Rolle spielen.

Alte Ausgaben von Zaman als Beweismittel

Die Zivilpolizei fordert Ahmet Kale auf, gemeinsam mit ihnen in seine Wohnung zu gehen. Dort werden die Räumlichkeiten durchsucht. Die Polizei beschlagnahmt Bücher von Fethullah Gülen und alte Ausgaben der Tageszeitung Zaman als Beweismittel. Des Weiteren werden sein Mobiltelefon, seine persönlichen Dokumente und das Bargeld, das er bei sich trug, beschlagnahmt und in einen Beutel gelegt. Alles Beweismaterial für die Mitgliedschaft in einer terroristischen (!) Organisation. Es liege eine Anzeige eines Unbekannten gegen ihn vor, erfährt Ahmet Kale. Da der Präsident nicht nur in der Türkei, sondern Türken auf der ganzen Welt fast jeden Tag aufruft, Sympathisanten der Hizmet-Bewegung dem Staat zu melden, herrscht unter den Türken, egal, wo sie leben, eine regelrechte Denunziationshysterie, bei der die Dorfvorsteher eine zentrale Rolle spielen.

Denn lange vor dem Putschversuch hatte Erdoğan bei einem seiner mittlerweile traditionellen Treffen mit Dorfvorstehen im Ak Saray diese aufgefordert, jeden “Terroristen“, den sie in ihrem Dorf kennen, den Sicherheitskräften zu melden. Das erinnert stark an Stalinismus.

Ahmet Kale wird letztlich festgenommen. Bei seiner Festnahme schildert er der Polizei noch einmal seine Situation. Er sagt zudem, dass er in dem Haus alleine wohnt und bittet sie, ihm zu erlauben, den Stromzähler abzuschalten und die Wasserleitung zuzudrehen. Seine Frau, Mutter von fünf Kindern, weiß nicht, was sie tun soll. Sie informiert ihren Sohn Hasan, der sich in Istanbul aufhält. Er fährt nach Ankara, holt seine Mutter ab und fährt sofort Richtung Deutschland, wo sich die anderen vier Geschwister aufhalten. Am ersten Tag der Verhaftung versucht die Familie zu erfahren, wie es ihrem Vater geht. Doch vergebens. Die Verwandten rufen bei der örtlichen Polizei an und bekommen diese Antwort: „Kommt doch her, damit wir euch auch verhaften.“

Da Ahmet Kale die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, melden sie den Fall auch der deutschen Botschaft in Ankara und bitten um Hilfe. Sie bekommen einige Zeit später einen Anruf. Der Botschaftsmitarbeiter teilt ihnen mit, dass es der Botschaft gelungen sei, Kontakt herzustellen. Dem schwer asthmakranken Mann gehe es den Umständen entsprechend zwar gut, man könne aber ihnen nicht sagen, wann er freigelassen werde.

Erst nach drei Tagen bekam Ahmet Kale einen Rechtsbeistand von der Anwaltskammer in Ankara. Der Anwalt konnte mehr über den Fall in Erfahrung bringen: „Man hat ihn wegen Terror verhaftet. Als Beweise zeigen sie ein Foto und zwei, drei Namen, die auf seinem Handy gespeichert sind. Bei ihnen handele es sich um verdächtige Personen.“ Da aber Ausnahmezustand herrsche und die Zeit der U-Haft auf 30 Tage erhöht sei, könne innerhalb dieser Zeit nichts unternehmen werden, lässt er die Familie wissen.

Die Familie Kale sitzt seitdem verzweifelt in ihrer Wohnung, in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, und weiß nicht, wie sie ihrem Vater helfen kann. Ob man sich an die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wenden solle, fragen sie bei Journalisten nach, die sich für den Fall interessieren. Oder einfach nur beten und abwarten, dass die 30 Tage vorbei sind und hoffen, dass der Vater dann freigelassen wird.

Dem Anwalt der Anwaltskammer trauen sie nicht, einen anderen Anwalt bekommen sie aber auch nicht, weil es schon vorgekommen ist, dass auch Anwälte, die freiwillig die Verteidigung eines „Putschisten“ übernehmen, verhaftet wurden. Daher ist die Zukunft von Ahmet Kale in dem schönen Land am Bosporus mehr als ungewiss.

*Personen- und Ortsnamen wurden aus Rücksicht auf den Inhaftierten und seine Familie, die uns freundlicherweise über den Fall informiert hat, geändert.